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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Noam, das drohende Ausreiseverbot und das harte Strafmaß, das mich dort erwarten würde, und kommt auf alle Aspekte zu sprechen, die diesen Fall so außergewöhnlich machen. Zum Beispiel führt er aus, dass mein Fall mit der Internationalisierung menschlicher Beziehungen von großer allgemeiner Bedeutung sei und die vorrangige Achtung der Grundrechte ins Zentrum rücke. Bei einer zu strengen Anwendung des Übereinkommens würde das Wesentliche aus den Augen verloren: der Schutz des Kindeswohls.
    Nach der Lektüre von Monsieur Lestourneauds Verteidigungsschrift staune ich über meinen eigenen Optimismus. Angesichts all der Argumente müssten die Richter schon taub und blind sein, wenn sie meinen Sohn bedenkenlos nach Israel zurückschicken würden.
    Natürlich erwarte ich nicht, dass von den siebzehn Richtern, die sich entscheiden müssen, alle vom vorherigen Gerichtsurteil abweichen werden. Doch ich wage zu hoffen, dass die Mehrheit auf meiner, auf unserer Seite stehen wird.

    Zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens hat mein Schweizer Anwalt, Monsieur Favre, eine glänzende und, wie sich später zeigen wird, entscheidende Idee. Er schlägt vor, für mich beim Lausanner Bezirksgericht die alleinige elterliche Erziehungsgewalt zu beantragen. Das Sorgerecht wurde mir zwar schon in Israel zugesprochen, doch die gemeinsame elterliche Erziehungsgewalt, nach der jedes Elternteil auch den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann, blieb auch für Shai bestehen. Daher habe ich mit meiner Flucht aus Israel gleichzeitig gegen das israelische Gesetz und das Haager Übereinkommen verstoßen. Sollte mir neben dem Sorgerecht auch die alleinige elterliche Erziehungsgewalt zugesprochen werden, würde ich das Haager Übereinkommen nicht weiter verletzen.
    Als Hauptargument führt Monsieur Favre an, dass Shai zwar einerseits vehement auf Noams Rückkehr poche, andererseits jedoch weder zu den Gerichtsverhandlungen erschienen sei noch von seinem Besuchsrecht Gebrauch gemacht habe. Er habe sich nie um die Bedürfnisse seines Kindes gekümmert, ja überhaupt kein Interesse an seinem Sohn gezeigt – kein Brief, keine Nachricht, kein Telefonanruf seit dessen Abreise aus Israel. Dagegen wachse Noam in der Schweiz in einem gesunden, ausgeglichenen Umfeld inmitten seiner Familie auf.
    Wenn wir in dieser Sache ein günstiges Urteil erwirkten, wäre es für Israel schwieriger, die Rückkehr von Noam und mir zu verlangen. Denn würde Shai die elterliche Erziehungsgewalt entzogen, ist diese Forderung faktisch ohne Grundlage. Und tatsächlich gibt uns das Lausanner Gericht in diesem Punkt vorbehaltlos recht. Womit Israel der Wind aus den Segeln genommen ist.

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
    So wie Hochleistungssportler für einen Marathonlauf trainieren, bereiten wir uns auf die Verhandlung vor der Großen Kammer vor. Monsieur Lestourneaud hält alle Fäden in der Hand. Zunächst bittet er Monsieur Favre um seine Unterstützung. Er soll alle Entwicklungen rund um das Schweizer Recht beobachten. Sehr überraschend wurde in der Schweiz gerade erst ein Gesetz zur internationalen Kindesentführung verabschiedet, das entführte Kinder besser schützen soll, indem Zwangsrückführungen ins Herkunftsland möglichst vermieden werden und stattdessen auf Schlichtung und Vermittlung gesetzt wird – eine Haltung, die der des Bundesgerichts in unserem Streitfall genau widerspricht. Auch bemüht sich Monsieur Lestourneaud, Igal, meinen israelischen Anwalt, für die Verhandlung zu gewinnen. Und tatsächlich willigt Igal ein, aus Tel Aviv anzureisen. Telefonkonferenzen müssen organisiert und die Rechtsdokumente der letzten vier Jahre für ihn übersetzt werden, da er kein Französisch versteht. Insgesamt werden vier Anwälte jeweils einen Aspekt dieses hochkomplexen Falls vertreten, denn neben Igal und Monsieur Favre wird Monsieur Lestourneaud zusätzlich von seiner Ehefrau und Kanzleipartnerin Patricia Potiez-Lestourneaud unterstützt.
    Im Herbst 2009 stehe ich permanent unter Strom. Ich weiß, dass mir am Ende im schlimmsten Fall nur die Flucht bleibt. Aber ich weigere mich, daran zu denken, vorläufig zumindest.

    Dann kommt der 7. Oktober. Unsere kleine Delegation reist nach Straßburg. Neben meinen Anwälten und deren Ehefrauen begleiten mich Mathieu, meine Schwester, mein Schwager und
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