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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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gedacht: an unsere beiden Reisetaschen, die Telefonnummern, die Kontakte für falsche Pässe. Wie vor fünf Jahren in Israel gehen mir verschiedene Fluchtszenarien durch den Kopf.
    Am 6. Juli 2010 gehe ich wie üblich zur Arbeit. Das Urteil wird um elf Uhr in Straßburg öffentlich verkündet, aber ich werde nicht vor Ort sein. Diese Blöße möchte ich mir nicht geben. Doch vor allem möchte ich so schnell wie möglich bei Noam sein, falls die Sache schlecht ausgeht.
    Um elf Uhr ziehe ich mich mit einer Arbeitskollegin in ihr Büro zurück. Fieberhaft durchsuchen wir die Homepage des Gerichtshofs.
    Um elf Uhr dreißig gibt es noch immer keine Neuigkeiten, keinen noch so kleinen Hinweis im Internet. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen.
    Mein Telefon klingelt. Es ist ein Journalist des Schweizer Fernsehens, der seit der Unterschriftenaktion in Lausanne gewissenhaft über die neusten Entwicklungen in meinem Fall berichtet.
    Â«Guten Tag, Frau Neulinger. Haben Sie das Urteil schon gesehen?»
    Vor Aufregung kreische ich mehr, als dass ich spreche: «Nein! Und Sie, haben Sie es gesehen?»
    Â«Ja, habe ich», antwortet der Arme eingeschüchtert.
    Â«Aber wie das? Wie haben Sie das geschafft?» Meine Stimme überschlägt sich fast.
    Â«Ich habe die Pressestelle des Gerichtshofs angerufen.»
    Â«Ja, und?»
    Â«Also, sicher bin ich mir nicht…»
    Ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. «Sie sind sich nicht sicher? Na, hören Sie mal, das ist doch ganz einfach. Ist von einem Verstoß die Rede, habe ich gewonnen, wenn nicht, habe ich verloren. Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter, und sagen Sie mir lieber, mit wie vielen Stimmen ich verloren habe!»
    Um etwas Ruhe in die Sache zu bringen, schlägt der Journalist vor, mir das Urteil per E-Mail zukommen zu lassen. Ich fasse es nicht.
    In der Zwischenzeit ruft ein anderer Journalist an und möchte später am Nachmittag einen Termin für ein Zeitungsinterview.
    Doch ich erteile ihm eine Abfuhr. «Ich habe noch nicht einmal das Urteil gesehen.»
    Â«Aber Sie wissen, dass Sie gewonnen haben?», fragt er vorsichtig.
    Mir verschlägt es die Sprache.
    Â«Warten Sie, ich lese Ihnen den Anfang der Pressemitteilung vor», fährt er fort und liest: «‹Die Rückgabe eines von seiner Mutter widerrechtlich verbrachten Kindes würde nicht zu seinem Wohle sein und dem Haager Übereinkommen zuwiderlaufen. Verstoß gegen Artikel 8 der…›»
    Ich lasse ihn nicht ausreden und stottere: «Aber, aber… können Sie das bitte wiederholen?»
    Â«Und außerdem haben Sie mit sechzehn zu einer Stimme gewonnen.»
    Endlich ist auch die Mail des anderen Journalisten eingetroffen, jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß. Ich lasse das Telefon sinken. Mein Jubel ist auf dem ganzen Stockwerk zu hören. Die Gefühle überwältigen mich, ich lache, weine, bin unfähig, einen vernünftigen Satz herauszubringen.
    Ich rufe meine Anwälte an, meinen Vater, Mathieu, meine Schwester und ihren Mann. Alle sind völlig baff und fragen mich, ob ich mich auch nicht verlesen hätte, ob ich mir ganz sicher und alles kein Irrtum sei.
    Diesmal haben wir also gewonnen, unsere Argumente haben gesiegt. Mit sechzehn zu einer Stimme betrachtet die Große Kammer es als erwiesen, dass eine Rückführung Noams gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen würde, der die Achtung des Privat- und Familienlebens behandelt.
    Anders als bei früheren Entscheiden ist der Urteilstext in dieser Hinsicht ganz klar: «Im Bemühen, allen auf dem Spiel stehenden Interessen gerecht zu werden – denen des Kindes, der beiden Eltern sowie der öffentlichen Ordnung –, ist das übergeordnete Wohl des Kindes als ausschlaggebend zu betrachten. Dieses Kindeswohl liegt dem Haager Übereinkommen zugrunde, das von der sofortigen Rückgabe eines entführten Kindes absieht, wenn diese mit dem großen Risiko, insbesondere eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind, verbunden wäre.»
    Nun ist es ausgestanden, ein für alle Mal. Das Fernsehen taucht auf, Journalisten bestürmen mich. In Israel herrscht Betroffenheit.
    Die Richter haben das Wohl meines Sohns über alle anderen Interessen gestellt, mehr haben wir nicht von ihnen verlangt.

Und jetzt
    Und jetzt – zum Schicksal der Frauen in
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