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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Unterfangen gewachsen, oder werde ich in der ungleichen Begegnung gnadenlos zermalmt?
    Die Antwort aus Israel bleibt nicht aus. Shai hat sich einen israelischen Anwalt genommen und wird im Verfahren als Drittkläger auftreten. Sein Anwalt geht so weit, mich als Kriminelle hinzustellen, die in Israel schon sehnlichst erwartet wird, um für ihre Taten verantwortlich gemacht zu werden. Israelische Journalisten wollen mich interviewen, aber Monsieur Lestourneaud rät mir, mich nicht in der Presse zu äußern.
    Obwohl der Gerichtshof unser Anliegen vorrangig behandelt, zieht sich das Verfahren in die Länge. Wieder einmal hängen wir in der Luft. Ich habe gelernt, mit dieser permanenten Anspannung zu leben, stets auf der Hut zu sein. Und die ganze Zeit über tue ich alles, um Noam abzuschirmen und ihm die Kindheit zu ermöglichen, die der eines Kindes in seinem Alter entspricht.
    Abends, nachdem ich ihn zu Bett gebracht habe, verlässt mich häufig der Mut. Wenn mich Erschöpfung und Sorgen heimsuchen, frage ich mich, ob ich es schaffen werde, einerseits tagtäglich meiner Arbeit nachzugehen und Noam großzuziehen und andererseits diesen gigantischen Kampf zu führen, um ihn behalten zu können. Warum gerade ich? Warum muss ich das alles durchmachen? Manchmal würde ich mich am liebsten gehen lassen, nur für einen kurzen Moment… Dann sehe ich meinen Sohn selig schlafen und habe wieder die Kraft, um weiterzumachen.
    Zum Glück bekomme ich von allen Seiten Hilfe, die Familie, Freunde und Kollegen stärken mir den Rücken. Selbst wildfremde Menschen halten mich auf der Straße an, sagen mir, dass sie mich im Fernsehen oder in der Zeitung gesehen hätten, und reden mir gut zu.
    Wenn ich nachts nicht schlafen kann, hole ich die Gerichtsakte hervor und gehe minutiös alle Einzelheiten durch, die meinem Anwalt oder, besser gesagt, meinen Anwälten von Nutzen sein könnten, denn auch Igal und Monsieur Favre verfolgen gespannt von Tel Aviv und Lausanne aus meinen Fall. Ich recherchiere im Internet, ziehe Vergleichsfälle in der Schweiz und Israel zu Rate – nichts möchte ich dem Zufall überlassen, jede noch so kleine Fährte könnte uns dienlich sein. Als absolute Laiin in Rechtsfragen eigne ich mir in nur wenigen Monaten so viele Kenntnisse an wie eine Jurastudentin in ihrem ersten Jahr.
    Ende 2007 muss meine Mutter wegen Lungenkrebs stationär behandelt werden. Jedes Mal, wenn wir sie im Krankenhaus besuchen, beglückwünsche ich mich, dass ich geflohen bin und ihr den Enkel mitgebracht habe, den sie über alles liebt. Sie hätte ihn wohl kaum so gut kennengelernt, wenn wir in Israel festgehalten worden wären.
    Im Frühjahr 2008, als ich mit Noam und ein paar Freunden gerade in Italien bin, verschlechtert sich ihr Zustand plötzlich, und sie fällt ins Koma. Ich komme zu spät, um sie noch einmal lebend zu sehen. Auch wird sie, wie sie es sich immer gewünscht hat, in Israel beigesetzt. Ich kann nicht dabei sein und werde niemals ihr Grab besuchen können, mein Kummer ist unermesslich. Dass meine Schwester unsere Mutter auf ihrer letzten Reise begleitet, ist mein einziger Trost.

    Die Monate vergehen, Noam wird fünf Jahre alt. Seit Beginn des neuen Schuljahrs besucht er die jüdische Schule ganztags. Er blüht dort auf und bekommt einen ausgezeichneten Unterricht, ganz nach jüdischer Tradition. Von all dem, was um ihn vor sich geht, von der Gefahr, die über unseren Köpfen schwebt, bleibt er unbehelligt.
    Anfang Dezember 2008 – das Verfahren läuft bereits seit fünfzehn Monaten – teilt uns das Gericht mit, dass sein Urteil für den folgenden Monat zu erwarten sei. Das neue Jahr werden wir also noch mit Warten beginnen müssen. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Frohe Weihnachten auch Ihnen, verehrte Richter!
    Um auf andere Gedanken zu kommen, reise ich mit Noam nach Belgien. Mit meinen Freunden von früher verbringen wir eine schöne Zeit, sehen uns Brügge an, fahren an die Nordsee und selbstverständlich nach Brüssel, wo ich Noam das Haus und all die Orte zeige, wo ich aufgewachsen bin.
    Am 8. Januar 2008 möchte ich nicht allein sein und suche Zuflucht bei meinem Vater. Das Urteil wird gleich nach Bekanntgabe auf der Website des Gerichts einzusehen sein.
    Monsieur Lestourneaud hat in seinem Antrag dargelegt, dass die Schweizer Regierung mit ihrer Anordnung von Noams
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