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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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dafür… Artikel 13, Absatz 1b des Haager Übereinkommens heran.
    Erwartungsfroh beuge ich mich zu meinem Anwalt hinüber. «Heißt das, wir haben gewonnen?»
    Doch so weit sind wir noch nicht, die Verhandlung hat erst begonnen. Die Richter tragen ihre Standpunkte vor und wechseln dabei von einer Sprache in die andere. Sie reden schnell, und ich habe Mühe, ihrer Unterredung zu folgen. Doch mein Anwalt sieht zunehmend besorgter aus und schüttelt den Kopf.
    Das Urteil trifft mich wie ein Schlag ins Genick: Mit vier Stimmen zu einer haben die Richter gegen uns entschieden. Mit dieser klaren Mehrheit wollen sie Noam nach Israel zurückschicken und halten an der strengen Auslegung des Haager Übereinkommens fest. Ihrer Ansicht nach habe ich keine ausreichenden Argumente angeführt, die objektiv die Verweigerung einer Rückführung nach Israel rechtfertigten. Genauso wenig hätte ich den Beweis erbracht, dass ich aufgrund der Entführung mit einer schweren Strafe zu rechnen hätte. Ein großes Risiko bestünde für Noam tatsächlich nur, wenn mein Sohn allein nach Israel zurückmüsste. Wenn ich ihn aber begleitete, sei die Maßnahme ungefährlich. Es könne mir also durchaus zugemutet werden, mit Noam nach Israel zurückzukehren.
    Und schon wird über die nötige Frist verhandelt. Eine Richterin spricht sich für drei Monate aus, die anderen vier sind der Meinung, dass fünf Wochen genügten. Die Sache ist abgemacht: Ende September soll Noam wieder in Israel sein. In gerade mal sechs Wochen!
    Ich bin wie versteinert und kann mich nicht von meinem Sitz erheben. In meiner Verzweiflung rufe ich den Richtern, die ihre Sachen zusammenräumen, zu: «Und was soll jetzt aus uns werden?»
    Die Richterin, die für uns gestimmt hat, schaut mich mitleidig an. Die anderen verlassen den Saal, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
    Wie in Trance und von Monsieur Favre gestützt, gehe ich nach draußen. Unter Schluchzen teile ich die Neuigkeiten meinen Eltern mit.
    Was mir genau droht, habe ich in der Zwischenzeit herausgefunden: Das israelische Gesetz sieht für Kindesentführung eine Freiheitsstrafe von zwanzig Jahren vor.
    Noch am selben Nachmittag schickt die israelische Zentralbehörde ein Fax an die Zentralbehörde in Bern, um unseren Rückflugtermin nach Tel Aviv zu erfahren…

Rüsten zum Kampf
    Obwohl ich nie mit einem Journalisten ein Wort gewechselt habe, wird am nächsten Tag in mehreren Tageszeitungen und im Schweizer Radio über meinen Fall berichtet. Immer wird dabei die Frage laut, ob man ein vierjähriges Schweizer Kind so einfach nach Israel zurückschicken könne. Ich ringe mich dazu durch, meine Vorgesetzen und meine Kollegen zu informieren. Durch die Zeitungsmeldungen ist es ohnehin schwierig, anonym zu bleiben, und einige kennen die Artikel bereits.
    Achtundvierzig Stunden stehe ich unter Schock, bin nicht ansprechbar, wie gelähmt. Dabei haben wir doch eingehend auf die Gefahr hingewiesen, der Noam in Israel ausgesetzt wäre. Wie können die Richter dieses Urteil mit ihrem Gewissen vereinbaren? Wer wird sich um meinen kleinen Jungen kümmern, wenn ich eingesperrt bin? Wo wird er wohnen? Wird man ihn mir mit Gewalt wegnehmen und ihn in ein Flugzeug mit dem Ziel Tel Aviv stecken?
    Auf das Unverständnis folgt wenig später Wut. Die Schweiz kann sich noch so sehr auf das Haager Übereinkommen berufen, doch niemand kann mich dazu bringen, gegen meinen Willen das Land zu verlassen, und das wissen die Behörden sehr wohl. In Wirklichkeit stellen sie mich vor eine perfide und letztlich unmögliche Wahl: Sie unterstellen mir, keine gute Mutter zu sein, wenn ich meinen Sohn nicht nach Israel begleite. Doch wenn ich ihn begleite, werfe ich mich den Löwen zum Fraß vor. Anders gesagt: Entweder lasse ich mein Kind im Stich, oder ich komme ins Gefängnis. Wie man es auch dreht und wendet, ich kann nur verlieren.
    Zu alldem drängt sich mir wie auch anderen der Verdacht auf, dass hinter der Entscheidung des Bundesgerichts politische und diplomatische Motive stehen, die ich nicht kenne und niemals werde herausfinden können. Dies würde in den Augen einiger Beobachter auch die Diskrepanz zwischen den beiden ersten Urteilen und dem des Bundesgerichts erklären.
    Nach zwei Tagen erwache ich aus meiner Starre. Mit meinem Anwalt ziehe ich Bilanz. Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft,
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