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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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schilderte. Werden die Richter Verständnis für uns haben, oder wird die enge Auslegung des Haager Übereinkommens über die Zukunft eines dreijährigen Kindes entscheiden?
    Tatsächlich dauert es nicht lange, bis das Urteil bekanntgegeben wird. Zwei Wochen später bestellt mich Monsieur Favre in seine Kanzlei. Mit Erleichterung lese ich die fünfzehnseitige Urteilsschrift ein ums andere Mal. Darin steht, das Gericht erkenne an, dass ich Noam widerrechtlich von Israel in die Schweiz verbracht und damit gegen das Haager Übereinkommen verstoßen hätte. Gleichzeitig wird auf Artikel 13 verwiesen, der in unserem Fall anzuwenden sei. Dieser besagt, kurz gefasst, dass die Verwaltungsbehörde eines Landes nicht dazu verpflichtet ist, ein Kind in sein Ursprungsland zurückzuschicken, wenn die Rückgabe mit einer Gefahr für das Wohl des Kindes verbunden ist. In meinem konkreten Fall bedeutet das, so das Gericht, dass «das noch sehr kleine Kind durch diese Situation einen beträchtlichen körperlichen oder seelischen Schaden davontragen und in eine unzumutbare Lage gebracht werden könnte, die seine Entwicklung und sein persönliches Wohl erheblich gefährden würde».
    Weiter heißt es: «Die Mutter verließ das israelische Staatsgebiet, um dem untragbaren Verhalten, das ihr Exmann angenommen hatte, zu entkommen und so das Wohl ihres Kindes zu schützen.»
    Noch weiß ich nicht, dass Artikel 13, Absatz 1b des Haager Übereinkommens zu meinem treusten Verbündeten werden sollte.
    Das Gericht weist auch darauf hin, dass die Lubawitsch-Bewegung, der sich Shai seit Herbst 2003 angenähert hat, unter säkularen Juden intensiv um neue Anhänger werbe und Jungen ab dem Alter von drei Jahren vorschreibe, Religionsschulen, sogenannte Cheder, zu besuchen. Schließlich wird im Urteil noch erwähnt, dass Shai bereits vom Tel Aviver Sozialamt zur Ordnung gerufen worden sei mit der Begründung, dass er mit seinem Sohn auf offener Straße Anhänger werbe und dass «eine Synagoge kein geeigneter Ort für die Ausübung des Besuchsrechts» sei.
    Folglich seien uns die Pässe auszuhändigen, und wir seien damit berechtigt, uns auch außerhalb der Schweizer Grenzen frei zu bewegen. Zudem muss Shai bis auf Weiteres einen Sicherheitsabstand zu Noam und mir einhalten.
    Die Richter haben uns also Gehör geschenkt. Doch die gegnerische Partei hat zehn Tage Zeit, um Berufung einzulegen.

    Noam ist nun drei Jahre alt. Die Zeit ist gekommen, um mein Versprechen wahrzumachen. Nach dem Ende der Schulferien soll er eine jüdische Schule besuchen. Allerdings möchte ich mich nicht auf einen Weg festlegen, und so ist Noam unter der Woche abwechselnd im Hort der jüdischen Schule und in einem nichtreligiösen Hort untergebracht.
    Leider wird meine Ruhepause vom Gericht nicht lange dauern. Durch seine Anwältin legt Shai umgehend beim Kantonsgericht, der nächsthöheren Instanz, Berufung ein. Das Kantonsgericht ist jedoch ein langsamer und schwerfälliger Apparat, der Zeit braucht, bis er in Gang kommt. Bei den israelischen Behörden werden Erkundigungen eingeholt, welches Schicksal meinen Sohn und mich in Israel erwarten würde. Für Noam wird ein psychologisches Gutachten angeordnet, für das uns ein Kinderpsychologe ausführlich befragt – ganz zum Missfallen der israelischen Zentralbehörde, die dahinter eine Verzögerungstaktik vermutet. Ich hätte mein Kind entführt, ich müsse es nach Israel zurückbringen und für mein Handeln geradestehen. Punkt.
    Immerhin hält der vom Gericht bestellte Psychologe fest, dass eine Rückkehr Noams, mit mir oder ohne mich, ein größeres Trauma auslösen könnte.
    Wieder warten wir. Monate. Dieses Mal wird es keine Anhörung geben, das Kantonsgericht tagt hinter verschlossenen Türen.
    In der Zwischenzeit versuche ich, wieder an mein altes Leben anzuknüpfen und meinen Alltag irgendwie zu bewältigen. Anfang 2007 lerne ich über eine Freundin Mathieu kennen. Er nimmt das Leben, wie es gerade kommt, und ist bereit, mit mir durch Höhen und Tiefen zu gehen.
    Nacheinander besuchen mich Myriam und Virginie, meine Freundinnen aus Tel Aviv. Wir schwelgen in Erinnerungen, an unsere kleine Clique und unsere verrückten Streifzüge durch die weiße Stadt.
    Sie erzählen mir, dass Shai bereits zum dritten Mal geheiratet und nach Noam noch drei weitere
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