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Am Sonntag stirbt Alison

Am Sonntag stirbt Alison

Titel: Am Sonntag stirbt Alison
Autoren: Katja Klimm
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Prolog
    Als die Tür ins Schloss gefallen war und sich die Schritte auf dem Gang entfernten, hob er den Kopf. Es war still. Alles, was man hörte, war das Brummen der Heizung, das Rauschen des Windes in den hohen Bäumen vor dem Fenster und manchmal das leise Knacken der Holzdecke über seinem Kopf. Geräusche, die er schon so oft wahrgenommen hatte. Doch da war noch ein anderer Ton, nah an seinem Kopf. Die Lüftung des Rechners, die in diesem Moment ansprang. Der Klang der Moderne, nur wenige Zentimeter von seinen ausgestreckten Fingern entfernt.
    Von all den Dingen, die ihn mit maßloser Wut erfüllten, war dies nahezu das schlimmste. Dass sie es wagte, seinen Computer zu benutzen. Er hatte damit gezaubert, hatte Angst und Schrecken damit verbreitet, und sie missbrauchte ihn als Schreibmaschine, tippte darauf ihre blödsinnige Post oder sortierte bestenfalls noch die letzten Urlaubsfotos. Es war entwürdigend. Und es war dumm, so dumm, dieses Gerät, diese Waffe in seiner Nähe zu lassen.
    Langsam bewegte sich seine Hand auf die Tastatur zu. Er erschauderte, als seine Fingerspitzen die Tasten berührten, wie lange hatte er dieses Gefühl vermisst. Doch er verbot sich, den Augenblick zu genießen. Die Zeit war knapp. Und es ging um ein Menschenleben. Seine Finger schlossen sich um die Kante und zogen die Tastatur heran. Er drehte den Kopf zur Seite, sodass er den Bildschirm im Blick hatte.
    Seine Verzeichnisse waren unverändert, sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sie zu löschen. Gut möglich, dass sie nicht einmal wussten, dass sie existierten. In den wenigen Sekunden, die ihm zum Nachdenken blieben, wog er seine Optionen ab. Kurz dachte er über die Möglichkeit nach, die Polizei zu informieren, doch er verwarf sie sofort. Mit denen hatte er zu schlechte Erfahrungen gemacht. Nein, er würde es auf seine Weise machen, wie immer.
    Er hatte das Gefühl, dass es endlos dauerte, bis sich das Programm aktivierte. Dann war es so weit. Er begann zu tippen, quälend langsam, Buchstabe für Buchstabe. Seine Hand verkrampfte bei der ungewohnten Bewegung, er spürte, wie er ins Keuchen kam. Ein Wort erschien auf dem Schirm, ein zweites. Die Zeit verrann, wie viele Worte würde er schreiben können, bevor jemand den Raum betrat, vier, fünf, sechs? War es möglich, diesen wenigen Worten die ganze Bedeutung zu geben, die erforderlich war, um die Katastrophe zu verhindern?
    In diesem Moment hörte er Schritte.
    Er versuchte, schneller zu schreiben, doch seine Hand weigerte sich, die Bewegungen zu beschleunigen. Das vierte Wort. Ganz nah waren die Schritte jetzt, jeden Moment würde sich die Tür öffnen. Er hätte schreien können vor Wut. Er hatte versagt. Niemand würde mit diesen vier Worten etwas anfangen können. Doch er durfte unmöglich noch weiterschreiben. Es könnte sein Tod sein, wenn er es versuchte.
    Die Schritte hielten vor der Tür an. Sein Finger glitt auf die »Enter«-Taste. Als die Klinke sich nach unten bewegte und die Tür aufgeschoben wurde, erlosch das Programm auf dem Bildschirm und die Tastatur war an ihren Platz zurückgekehrt.
    Sie trat ins Zimmer, setzte sich mit einem leisen Seufzen auf den Schreibtischstuhl neben ihm. Einen Augenblick lang sah sie etwas irritiert auf den Bildschirm, dann zuckte sie mit den Schultern und begann wieder zu tippen. Ihn würdigte sie keines Blickes.
    Und während er auf das unerreichbare Fenster starrte, hinter dem sich der alte Ahornbaum im Wind bewegte, raste seine Nachricht bereits über die Datenautobahnen der Welt, verzweigte und vervielfältigte sich, um sich schließlich zu verlieren in der Unzahl von Bits und Bytes, von all den wichtigen und weniger wichtigen und völlig belanglosen Informationen, die das World Wide Web bevölkerten.

Mittwoch
    Es war dunkel in Lysandes Zimmer. Still und dunkel. Nur der Bildschirm des Rechners gab ein schwaches bläuliches Licht ab, das den gesamten Raum mit einem geisterhaften Schein erfüllte.
    Sie saß auf dem Bett, die Knie angezogen, und starrte in den dunklen Raum. Schreibtisch und Schrank bildeten im Dämmerlicht nur zwei klobige schwarze Klötze. An der Tür konnte sie die abblätternden Fußballposter erkennen.
    Es war vier Uhr morgens. Die Stadt schlief.
    In ein paar Stunden würde der letzte Schultag vor den Winterferien anbrechen. Nicht dass das noch eine Rolle spielte, außer vielleicht, dass sie für einige Tage den mitleidigen Blicken der Lehrer und den superklugen Ratschlägen der Schulpsychologin entkommen
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