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Heimat Mars: Roman (German Edition)

Heimat Mars: Roman (German Edition)

Titel: Heimat Mars: Roman (German Edition)
Autoren: Greg Bear
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E INE Ä RA NÄHERTE SICH IHREM E NDE . Im Unterricht hatte ich die Anzeichen recht arglos registriert. Einige scharfsichtige Professoren hatten sogar düstere Andeutungen gemacht. Aber nie hätte ich gedacht, dass die Lage mich ganz persönlich betreffen würde … Bis zu diesem Tag.
    Ich war aus der Mars-Universität Sinai relegiert worden. Zweihundert Kommilitoninnen und Kommilitonen und Professoren teilten mein Los. In der strahlend weißen Bahnhofshalle standen wir rechts und links in Schlangen an, Schattenkreuze lagen über allen Gesichtern. Sonnenstrahlen fielen durch das Netz aus Trägern und Querbalken, die das Bahnhofsdach stützten. Wir alle warteten auf den Solis Dorsa-Zug, der uns rasch zu unseren Wohnorten, den heimischen Ebenen, Gräben und Tälern tragen würde.
    Meine Zimmergenossin Diane Johara hatte ihren gestiefelten und gespornten Fuß auf eine kleine Tasche gestellt. Mit der Stiefelspitze trat sie gegen den Griff. Die Lippen hatte sie wie zum Pfeifen gespitzt, aber es war kein Laut zu hören. Ihr Gesicht hatte sie den Sperren in nördlicher Richtung zugewandt, jeden Moment musste der Zug seine Nase hindurchstecken. Diane und ich waren zwar gute Freundinnen, aber über Politik hatten wir nie miteinander gesprochen. Das gehörte sich auf dem Mars einfach nicht.
    »Ein Attentat«, sagte sie.
    »Klappt nicht«, murmelte ich. Bis vor wenigen Tagen hatte ich gar nicht gewusst, wie heftig Dianes Emotionen kochten. »Wen willst du überhaupt erschießen?«
    »Die Gouverneurin. Die Rektorin.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Man hatte mehr als achtzig Prozent der Studenten an der Mars-Universität relegiert – und damit den Vertrag praktisch für null und nichtig erklärt. Das kam mir verdammt ungerecht vor, aber meine Familie hatte nie zu den politischen Aktivisten gezählt. Als Tochter von Leuten, die einer im Finanzwesen tätigen BG angehörten, war ich in eine schon lange währende Tradition der Vorsicht hineingeboren worden. Also verhielt ich mich eher abwartend.
    Die politische Struktur, die sich die ersten Siedler vor hundert Jahren gegeben hatten, siechte vor sich hin, ihre Tage waren gezählt. Die ersten Siedler waren in Gruppen von zehn oder mehr Familien angekommen. Von Pol zu Pol, über den ganzen Mars verteilt, hatten sie in wasserreichen Gegenden labyrinthische Bauten unter Tage angelegt. Die meisten Karnickelbauten befanden sich allerdings im Flachland und in den tiefen Tälern. Nach dem Vorbild der Mondsiedlungen hatten sich die ersten Familien zu Verbänden zusammengeschlossen, die sie ›Bindende Gruppen‹, kurz ›BGs‹ nannten. Die BGs agierten als wirtschaftliche Einheiten und waren gleichzeitig Großfamilien. ›Familie‹ und ›BG‹ wurden tatsächlich fast wie Synonyme gebraucht. Die späteren Siedler konnten sich entweder bestehenden BGs anschließen oder neue ins Leben rufen. Nur wenige Familien hatten die Unabhängigkeit vorgezogen.
    Viele BGs verschmolzen miteinander und einigten sich im Laufe der Zeit darauf, den Mars in Flächenkataster aufzuteilen und die Ressourcen gemeinschaftlich zu erschließen. Da Land im Überfluss vorhanden war, sahen die Bindenden Gruppen einander im großen und ganzen nicht als Konkurrenten, sondern als Partner an.
    »Der Zug hat Verspätung«, stellte Diane fest, die immer noch mit dem Stiefel wippte. »Angeblich sorgen die Faschisten doch dafür, dass die Züge pünktlich fahren.«
    »Auf der Erde haben sie das nie getan«, antwortete ich.
    »Du hältst es also für ein Märchen?«
    Ich nickte.
    »Faschisten taugen also zu gar nichts?«, wollte Diane wissen.
    »Doch, zu Uniformen«, sagte ich.
    »Unsere haben nicht mal gute Uniformen.«
    Da die Gouverneure in den Bezirken gewählt wurden, waren sie – ungeachtet ihrer BG-Zugehörigkeit – nur den Einwohnern dieser Bezirke Rechenschaft schuldig. Den BGs erteilten sie Genehmigungen zum Bergbau und Siedlungsrechte, die Bezirke vertraten sie in einem Gemeinsamen Rat Bindender Gruppen. Die ›Syndikusse‹ oder führenden Rechtsvertreter, die innerhalb von BGs mit den Stimmen altgedienter Anwälte und Geschäftsführer gewählt wurden, vertraten im Rat die Interessen der BGs ganz eigenständig. Gouverneure und Syndikusse zogen selten an einem Strang. Es ging stets sehr förmlich und höflich zu – Marsleute sind ja fast immer höflich – aber viele Vorgehensweisen waren nirgendwo schriftlich festgelegt und boten entsprechende Reibungspunkte. Manche Leute hielten das System für überholt und
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