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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Fragen bedrängt wurde, beantwortete er sie geduldig in einem ausführlichen Brief, in dem mir ein Satz auffiel: »Ihre letzte Frage nach dem eigentlichen Ziel‹ meiner Arbeit ist am schwersten zu beantworten. Ich sage einfach: Freude.« Vielleicht ist damit auch gesagt, wozu uns Menuhin verholfen hat: zu Freude, zum Vergnügen und zum Glück – nicht mehr und nicht weniger. Dafür habe ich, haben wir ihm zu danken – in Bewunderung und Verehrung.
    Indes: Was haben Mozart oder Schubert erreicht? Vermochten sie die Welt zu verändern? Gewiß, mit Sicherheit, aber nur insofern, als sie zur vorhandenen Welt ihr Werk hinzugefügt haben. Ein Trost bleibt uns: Wir wissen immer nur, was die Musik nicht verhütet hat. Wie unsere Welt aussehen würde ohne Musik, das wissen wir nicht. Gilt nicht das gleiche für die Poesie? Habe ich je gehofft, man könne mit der Literatur die Menschen erziehen, die Welt verändern?
    Wer die Literaturgeschichte wenigstens in groben Umrissen kennt, ist für solche Illusionen nicht anfällig. Haben die Tragödien und Historien Shakespeares auch nur einen einzigen Mord verhindert? Hat Lessings »Nathan« den im achtzehnten Jahrhundert ständig wachsenden Antisemitismus zumindest eingeschränkt? Machte Goethes »Iphigenie« die Menschen humaner, wurde wenigstens ein einziges Individuum nach der Lektüre seiner Gedichte edel, hilfreich und gut? Vermochte Gogols »Revisor« die Bestechlichkeit im zaristischen Rußland zu mindern? Ist es Strindberg gelungen, das Eheleben der Bürger zu bessern?
    In unzähligen Ländern haben Millionen von Zuschauern Bertolt Brechts Stücke gesehen. Daß aber einer dadurch seine politischen Ansichten geändert oder auch nur einer Prüfung unterzogen hätte, hat Max Frisch bezweifelt. Er zweifelte sogar, daß Brecht an die erzieherische Wirkung seines Theaters überhaupt geglaubt habe. Bei den Proben hatte er, Frisch, den Eindruck: Auch der Nachweis, daß sein Theater nichts zur Veränderung der Gesellschaft beitragen könne, hätte Brechts Bedürfnis nach Theater nicht beeinträchtigt.
    Nein, an eine nennenswerte pädagogische Funktion der Literatur habe ich nie ernsthaft gedacht, wohl aber an die Notwendigkeit des Engagements, das soll heißen: Obwohl die Schriftsteller nichts ändern können, sollten sie Änderungen anstreben – um der Qualität ihrer Arbeiten willen. Als ich schon in der Bundesrepublik schrieb, in den späten fünfziger und auch noch in den sechziger Jahren, kam dieses Postulat in meinen Artikeln mehr oder weniger deutlich zum Vorschein, hier und da tauchte die Vokabel »Gesellschaftskritik« auf.
    Doch 1968 und in der folgenden Zeit machte sich im literarischen Leben der Bundesrepublik eine militante und düstere Kunstfeindschaft breit – und aus meinen Aufsätzen verschwand, zusammen mit dem zur Modevokabel aufgestiegenen Begriff »Utopie«, die Forderung nach jenem Engagement, das als Fundament neuer Romane oder Theaterstücke dienen sollte. Als Thomas Mann die »Buddenbrooks« schrieb, Proust die »Suche nach der verlorenen Zeit« und Kafka den »Prozeß«, dachten sie nicht im entferntesten daran, mit ihrer Prosa die Gesellschaft zu bessern – und schufen gleichwohl Werke, die in unserem Jahrhundert nicht übertroffen wurden. Von einer Literatur, die darauf aus ist, die Welt zu verändern, versprach ich mir nichts, ich konnte sie mir nicht mehr vorstellen. Es sei denn, man war bereit, auf künstlerische Qualität zu verzichten und die literarische Form lediglich als Verpackung für erwünschte politische oder ideologische Thesen und Bilder zu verwenden. Aber das kam natürlich nicht in Betracht.
    Ich wollte, wie jeder Kritiker, erziehen, doch nicht etwa die Schriftsteller – einen Schriftsteller, der sich erziehen läßt, lohnt es sich nicht zu erziehen. Ich hatte vielmehr das Publikum im Auge, die Leser. Um es ganz einfach zu sagen: Ich wollte ihnen erklären, warum die Bücher, die ich für gut und schön halte, gut und schön sind, ich wollte sie dazu bringen, diese Bücher zu lesen. Beschweren kann ich mich nicht: Meine Kritiken hatten – zumindest in der Regel – den erwünschten Einfluß auf das Publikum. Trotzdem schien mir dieser Einfluß nicht ausreichend, man sollte doch wohl mehr erreichen und sich nicht damit abfinden, daß manch ein wichtiges, wenn auch vielleicht schwieriges Buch nur von einer Minderheit zur Kenntnis genommen wird.
    Im Sommer 1987 besuchten mich zwei gebildete Herren vom Zweiten Deutschen Fernsehen:
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