Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
Auch daraus ist also nichts geworden, wohl vor allem deshalb, weil er schon in jungen Jahren ein willensschwacher Mensch war – und es auch geblieben ist. 1906 heiratete er meine Mutter, Helene Auerbach, die Tochter eines armen Rabbiners. Bei der Hochzeitsfeier, die in einem Hotel in Posen stattfand, wurde zunächst das Brautlied aus dem »Lohengrin« intoniert und dann der Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns »Sommernachtstraum«-Musik – dies war bei den Juden in Polen, bei den gebildeten zumindest, nicht ungewöhnlich, ja, es gehörte zum Ritual. Die Hochzeitsreise führte das junge Paar, auch das war damals üblich, nach Deutschland, nach Dresden vor allem und nach Bad Kudowa.
    Hätte Günter Grass oder ein anderer meinen Vater irgendwann gefragt, was er denn eigentlich sei – er wäre verblüfft gewesen: Er sei doch, hätte er gesagt, natürlich ein Jude und sonst nichts. Ebenso hätte ganz gewiß auch meine Mutter geantwortet. In Deutschland war sie aufgewachsen, in Preußen, genauer: im Grenzgebiet zwischen Schlesien und der Provinz Posen. Nach Polen war sie nur durch die Ehe geraten.
    Ihre Vorfahren väterlicherseits waren seit Jahrhunderten allesamt Rabbiner. Über einige von ihnen kann man in größeren jüdischen Nachschlagebüchern allerlei erfahren, denn sie veröffentlichten wissenschaftliche Werke, die zu ihrer Zeit offenbar sehr geschätzt wurden. Sie beschäftigten sich weniger mit theologischen als mit juristischen Fragen – was übrigens bei den Juden gang und gäbe war: Die Rabbiner fungierten in früheren Zeiten keineswegs nur als Geistliche und Lehrer, sondern zugleich auch als Richter.
    Obwohl von den fünf Brüdern meiner Mutter nur der älteste Rabbiner wurde – er versah sein Amt in Elbing, dann in Göttingen und schließlich, bis zu seiner Auswanderung unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg, in Stuttgart –, kann man doch sagen, daß sie alle, emanzipiert und assimiliert, auf ihre Weise an der Familientradition festgehalten haben. Denn drei von ihnen wurden Rechtsanwälte, ein vierter Patentanwalt. Freilich war ihnen das Religiöse, wenn man von dem Ältesten, dem Rabbiner, absieht, beinahe gleichgültig geworden.
    Und meine Mutter? Auch sie wollte von Religion nichts wissen, an Jüdischem war sie nur noch wenig interessiert. Trotz ihrer Herkunft? Nein, wohl eher wegen ihr. Ich glaube, daß sie mit der unmißverständlichen Abwendung von der geistigen Welt ihrer Jugend still und sanft gegen das rückständige Elternhaus protestierte. Das Polnische wiederum interessierte sie überhaupt nicht. Wenn ich ihr am 28. August zu ihrem Geburtstag gratulierte, wiederholte sie alljährlich die Frage, ob ich denn wisse, wer heute außerdem noch Geburtstag habe. Daß sie am selben Tag wie Goethe geboren worden war, wollte sie, vermute ich, als Symbol verstehen. In Gesprächen mit mir zitierte sie die Klassiker. Wenn ich mit dem Essen unzufrieden war, bekam ich zu hören:
     
    Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?
    Wächst mir ein Leutnant in der flachen Hand?
     
    Als ich später die »Jungfrau von Orleans« las, sah ich zu meiner Verwunderung, daß bei Schiller durchaus kein Leutnant in der flachen Hand wuchs, sondern ein Kornfeld. Wie auch immer: Ihr Zitatenschatz stammte aus der deutschen Dichtung, jener zumal, die man im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in der Schule behandelte – und das waren vor allem Goethe und Schiller, Heine und Uhland.
    Mein Vater hingegen war und blieb dem Judentum eng verbunden. Hat er an Gott geglaubt? Ich weiß es nicht, darüber sprach man nie. Aber wahrscheinlich war die Existenz Gottes für ihn so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. An den hohen Feiertagen und am Sabbat ging er in die Synagoge, auch später, als wir schon in Berlin lebten. Doch war dies nicht unbedingt ein religiöser Akt. Für die Juden ist die Synagoge nicht nur ein Gotteshaus, sondern auch ein geselliger Ort. Dort trifft man sich, um vielleicht gemeinsam mit Gott, aber jedenfalls mit Bekannten und Gleichgesinnten zu sprechen. Kurz: Die Synagoge spielt auch die Rolle eines Klubs.
    Nicht die Religion hat das Leben meines Vaters geprägt, wohl aber die Tradition. Früh schon hat ihn, wie zahllose andere polnische Juden seiner Generation, der Zionismus tief beeindruckt. Stolz erzählte er, daß er am dritten Zionistischen Weltkongreß in Basel teilgenommen habe. Doch war das schon lange her, im Jahre 1905. Von einem späteren zionistischen Engagement meines Vaters oder von Aktivitäten im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher