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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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jüdischen Sitte, das Andenken verstorbener Angehöriger zu ehren, indem man deren Vornamen seinen Kindern gibt. So heißt auch die Tochter meines Sohnes Carla Helen Emily – nach den Namen ihrer in Treblinka umgekommenen Großmütter. Ich wurde also mit dem in Polen damals kaum gebräuchlichen Namen Marcel bedacht. Erst vor wenigen Jahren habe ich erfahren, daß am 2. Juni, dem Tag meiner Geburt, der katholische Kalender eines Heiligen namens Marcellus gedenkt, eines römischen Priesters und Märtyrers aus der Zeit des Kaisers Diokletian. Meine Eltern haben von der Existenz dieses Heiligen bestimmt nichts gewußt. Wahrscheinlich ging die Namensnennung auf den Vorschlag eines katholischen Dienstmädchens oder Kinderfräuleins zurück. Wer immer es war, der auf diese Idee gekommen ist – ich habe ihm nichts vorzuwerfen, im Gegenteil, ich bin ihm bis heute dankbar: Denn an meinem Vornamen habe ich, anders als meine Schwester Gerda an ihrem, nie gelitten.
    Wenn ich in meiner frühen Kindheit gelegentlich von Gleichaltrigen bespöttelt wurde, so hatte dies mit einem belanglosen Umstand zu tun, den ich aber bis heute nicht vergessen kann. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als meine Mutter während eines kurzen Besuchs bei ihrer Berliner Familie in einem Kaufhaus Kindergarderobe mit der Aufschrift »Ich bin artig« sah. Das fand sie amüsant. Ohne die möglichen Folgen zu bedenken, ließ sie auf meine Blusen und Kittel – wieder einmal etwas weltfremd – ebendiese Aufschrift in polnischer Übersetzung sticken. Rasch wurde ich zum Gespött der Kinder – und reagierte darauf mit Wut und Trotz: Brüllend und prügelnd wollte ich jenen, die sich über mich lustig machten, beweisen, daß ich besonders unartig war. Das trug mir den Spitznamen »Bolschewik« ein. Meine lebenslängliche Neigung zum Trotz – sollte sie damals ihren Anfang genommen haben?
    Als ich alt genug war, kam mein Vater eines Tages überraschend in Begleitung eines bärtigen Mannes nach Hause. Er hatte ungewöhnlich lange Schläfenlocken und trug einen Kaftan, den schwarzen, mantelartigen Rock, die übliche Kleidung der orthodoxen Juden. Dieser schweigsame Mann, der mir etwas unheimlich vorkam, sollte mein Lehrer sein. Er werde mir, erklärte mein Vater, Hebräisch beibringen. Aber mehr konnte mein Vater nicht sagen, denn gerade war meine Mutter aufgetaucht, die sich sofort einmischte: Ich sei für den Unterricht, sagte sie mit Entschiedenheit, vorerst noch zu klein. Der enttäuschte Lehrer wurde auf später vertröstet und kurzerhand weggeschickt. Mein Vater leistete keinen Widerstand. Dies war sein erster Versuch, in meine Erziehung einzugreifen; es war auch sein letzter.
    Nie hat mir meine Mutter erklärt, warum sie von der Erziehung im Geiste der jüdischen Religion nichts wissen wollte. Als es Zeit war, mich in die Schule zu schicken, beschloß sie, daß ich, anders als meine Geschwister, in die evangelische, die deutschsprachige Volksschule gehen sollte. War das etwa ein Protest gegen das Judentum? Nein, nicht unbedingt. Nur wollte sie, daß ich in deutscher Sprache erzogen würde.
    Allerdings gab es gleich am Anfang eine ernste Schwierigkeit: Ich konnte schon zuviel. Das wäre noch nicht so schlimm gewesen. Doch leider konnte ich auch zuwenig. Ein Kinderfräulein, von dem ich betreut wurde, hatte sich einen Spaß daraus gemacht, mir nebenbei und ohne viel Mühe das Lesen beizubringen. Ich erlernte es sehr rasch, nur zeigte mir niemand, wie man Buchstaben schreibt. In unserer Wohnung stand aber eine alte Schreibmaschine – und es fiel mir nicht schwer, einzelne Buchstaben auf ein Blatt Papier zu befördern: Bald war ich in der Lage, an meine Schwester, die damals in Warschau studierte, einen kurzen Brief zu tippen.
    Nun brachte mich also meine Mutter in die deutsche Schule. Dem Schulleiter, einem besonders strengen Mann, der, wenn ich recht informiert bin, in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs von den Polen als deutscher Spion hingerichtet wurde, erzählte sie von der, wie sie meinte, ungewöhnlichen Situation. Er aber schien nicht zum ersten Mal mit einem solchen Problem konfrontiert zu sein und prüfte mich sofort: Ich las rasch und korrekt. Doch damit war die Sache keineswegs erledigt. Man müsse sich, erklärte dieser Schulleiter nicht ohne Humor, sofort entscheiden: »Entweder teilen wir ihn der ersten Klasse zu, dann wird er sich beim Leseunterricht langweilen, oder er geht gleich in die zweite, dann müßten Sie aber dafür sorgen,
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