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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Was sind Sie denn eigentlich?
     
    Es war Ende Oktober 1958 auf einer Tagung der »Gruppe 47« in der Ortschaft Großholzleute im Allgäu. Von den hier versammelten Schriftstellern kannte ich nur wenige – kein Wunder, denn ich lebte erst seit drei Monaten wieder in dem Land, aus dem mich die deutschen Behörden im Herbst 1938 deportiert hatten. Jedenfalls fühlte ich mich bei dieser Tagung isoliert; und so war es mir nicht unrecht, daß in der Mittagspause ein jüngerer deutscher Autor, mit dem ich mich im vergangenen Frühjahr in Warschau unterhalten hatte, auf mich zukam. Noch wußte ich nicht, daß schon am nächsten Tag, mit dem ihm verliehenen Preis der »Gruppe 47«, sein steiler Aufstieg zum Weltruhm beginnen sollte.
    Dieser kräftige junge Mann, selbstsicher und etwas aufmüpfig, verwickelte mich nun in ein Gespräch. Nach einem kurzen Wortwechsel bedrängte er mich plötzlich mit einer einfachen Frage. Noch niemand hatte mir, seit ich wieder in Deutschland war, diese Frage so direkt und so ungeniert gestellt. Er, Günter Grass aus Danzig, wollte nämlich von mir wissen: »Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher oder wie?« Die Worte »oder wie« deuteten wohl noch auf eine dritte Möglichkeit hin. Ich antwortete rasch: »Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.« Grass schien überrascht, doch war er offensichtlich zufrieden, ja beinahe entzückt: »Kein Wort mehr, Sie könnten dieses schöne Bonmot nur verderben.« Auch ich fand meine spontane Äußerung ganz hübsch, aber eben nur hübsch. Denn diese arithmetische Formel war so effektvoll wie unaufrichtig: Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, daß ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.
    Als ich 1994 gebeten wurde, in den Münchner Kammerspielen an der Veranstaltungsreihe »Reden über das eigene Land« teilzunehmen und einen Vortrag zu halten, folgte ich zwar der Einladung, war aber, wenn auch freiwillig, in einer sonderbaren, einer heiklen Situation: Ich mußte mit dem Geständnis beginnen, daß ich gar nicht habe, worüber ich reden sollte – ich habe kein eigenes Land, keine Heimat und kein Vaterland. Ein ganz und gar heimatloser Mensch, ein richtiger vaterlandsloser Geselle war und bin ich nun wieder auch nicht. Wie ist das zu verstehen?
    Meinen Eltern bereitete ihre Identität überhaupt keinen Kummer. Darüber haben sie, dessen bin ich ganz sicher, nie nachgedacht, nie nachdenken müssen. Mein Vater, David Reich, wurde in Plozk geboren, einer schönen polnischen Stadt an der Weichsel, nordwestlich von Warschau. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, als Plozk zu Preußen gehörte und der Mittelpunkt jener Provinz war, die man Neuostpreußen nannte, amtierte dort ein junger Regierungsrat, ein auffallend und vielseitig begabter Jurist: E.T.A. Hoffmann. Noch unlängst war er in einem erheblich größeren und interessanteren Ort als Assessor tätig gewesen – in der Stadt Posen. Da er aber dort Karikaturen verfertigt hatte, die seine Vorgesetzten für besonders boshaft hielten, wurde er strafversetzt, ja eigentlich verbannt – eben nach Plozk.
    Über meine Vorfahren väterlicherseits weiß ich so gut wie nichts. Das liegt bestimmt nur an mir, denn mein Vater hätte mir ausführlich und gern Auskunft erteilt, hätte ich auch nur das geringste Interesse gezeigt. Ich weiß bloß, daß sein Vater ein erfolgreicher Kaufmann war, der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte: Er besaß in Plozk ein stattliches Mietshaus. An der Erziehung seiner Kinder hat er nicht gespart. Eine Schwester meines Vaters wurde Zahnärztin, eine andere studierte am Warschauer Konservatorium Gesang. Sie wollte Opernsängerin werden, was ihr nicht recht gelungen ist – obwohl sie, immerhin, in Lodz als Butterfly auftreten durfte. Als sie kurz darauf heiratete, würdigten die stolzen Eltern den künstlerischen Erfolg ihrer Tochter, indem sie die Aussteuer, zumal die Bettwäsche, mit gestickten Schmetterlingen verzieren ließen.
    Auch mein Vater war musikalisch, er spielte in jungen Jahren Violine, was er ziemlich bald aufgegeben haben muß, denn zu meinen Zeiten lag sein Instrument stets auf dem Schrank. Da er Kaufmann werden sollte, schickten ihn seine Eltern in die Schweiz. Dort studierte er an einer Handelshochschule, brach aber sein Studium bald ab und kehrte nach Hause zurück.
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