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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Baumaterialien produziert wurden. Er bezeichnete sich gern als »Industrieller«. Doch in den späten zwanziger Jahren hat man in Polen immer weniger gebaut, der Bankrott der Firma ließ sich nicht mehr vermeiden. Das war damals nicht ungewöhnlich, was freilich meine Mutter nicht trösten konnte: Hätte ihr Mann, pflegte sie zu sagen, Särge hergestellt, dann würden die Menschen aufhören zu sterben.
    Sie hat damals sehr gelitten. Sie schämte sich, auf die Straße zu gehen, denn sie rechnete mit höhnischen oder verächtlichen Blicken der Nachbarn und Bekannten. Vermutlich waren es übertriebene Befürchtungen, zumal sich meine Mutter in der Stadt großer Beliebtheit erfreute: Man schätzte ihr ruhiges, ja nobles Wesen, das man auf ihre Herkunft aus der Welt der deutschen Kultur zurückführte. Aber es mag sein, daß sie mehr als die Verachtung der Mitbürger deren Mitleid fürchtete.
    An der ganzen Katastrophe war sie, versteht sich, unschuldig: Daß sie auf die erschreckende Untüchtigkeit ihres Mannes keinerlei Einfluß hatte, konnte ihr niemand vorwerfen. Doch sicher ist: So viele Vorzüge meine Mutter auch hatte, sie war – in dieser Hinsicht meinem Vater nicht unähnlich – vollkommen unpraktisch. Gewiß fiel es ihr sehr schwer, zu tun, was getan werden mußte, um die schlimmsten Folgen des Bankrotts zu verhüten und so die Familie zu retten: Geld mußte beschafft werden. Es gab nur eine einzige Möglichkeit: Zu ihren in Berlin lebenden Brüdern gehörte ein besonders erfolgreicher Rechtsanwalt, der auch der Wohlhabendste in der ganzen Familie war. Sie mußte sich überwinden und diesen Bruder, Jacob, anrufen. Sie mußte ihn beschwören, telegraphisch eine beträchtliche Geldsumme zu überweisen. Er hat die Hilfe, um die er gebeten wurde, nicht verweigert.
    Was sich damals rings um mich abspielte, konnte ich, kaum neun Jahre alt, natürlich nicht begreifen. Dennoch habe ich es gespürt: Zuviel wurde in unserer Wohnung, auch in meiner Gegenwart, geweint, als daß mir die Familienkatastrophe hätte entgehen können. Das Scheitern meines Vaters, kläglich und erbärmlich zugleich, warf einen düsteren Schatten nicht nur auf meine Jugend. Doch dies hatte weniger mit dem Absturz selber zu tun als mit dessen ökonomischen Folgen: Als Halbwüchsiger sah ich sehr genau die Abhängigkeit meiner Eltern von jenen Verwandten, die ihnen halfen. Die Furcht, ich selber könnte je in eine solche demütigende Abhängigkeit geraten, hat noch viele Jahre lang auf manche meiner Lebensentscheidungen einen starken Einfluß gehabt.
    Aber vorerst bewirkte diese Katastrophe eine für mich überaus günstige Wende. Denn unter dramatischen und fatalen Begleitumständen ging der alte Traum meiner Mutter unerwartet in Erfüllung: Da an die Zukunft unserer Familie an Ort und Stelle nicht zu denken war, wurde die Übersiedlung nach Berlin beschlossen und vorbereitet. Dort würde sich, hofften meine Eltern, eine neue Existenz gründen lassen, wobei, wie sich später zeigte, konkrete Vorstellungen von der künftigen beruflichen Tätigkeit meines Vaters noch gar nicht vorhanden waren. Ich wurde als erster nach Berlin geschickt, um mit der Familie des wohlhabenden Onkel Jacob – es gab dort drei Kinder ungefähr in meinem Alter – den Sommer zu verbringen, in Westerland auf Sylt.
    Doch vor der Reise hatte ich mich, so glaubte meine Mutter, unbedingt von meiner bisherigen Lehrerin zu verabschieden. Worüber sich die beiden Damen damals unterhielten, weiß ich nicht mehr, vermutlich über das Buch von Remarque. Aber das Wort, das mir meine Lehrerin auf den Weg gab, habe ich nie vergessen. Denn das Fräulein Laura mit dem wogenden Busen richtete den Blick in die Ferne und verkündete ernst und feierlich: »Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.« Zwar habe ich nicht verstanden, worum es ging, doch fiel mir auf, daß meine Mutter zustimmend nickte.
    Am nächsten Tag saß ich, betreut von einem Bekannten meiner Eltern, der ebenfalls gen Westen fuhr, im Zug nach Berlin. Sonderbar: Ich hatte keine Angst vor dem, was meiner in der fremden Stadt harrte, und auch keine Angst vor den Angehörigen, die ich doch überhaupt nicht kannte. War es kindlicher Leichtsinn und Mangel an Phantasie? Vielleicht, nur kam da, vermute ich, noch etwas hinzu. Über die Stadt, der ich mich nun ungeduldig näherte, hatte ich schon allerlei gehört: Angeblich fuhren dort die Züge unter der Erde oder über den Häusern, dort verkehrten, hatte man mir erzählt,
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