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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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    Miss Bruss, die perfekte Sekretärin, empfing Nona Manford an der Tür zum Boudoir ihrer Mutter (dem «Büro», wie es Mrs Manfords Kinder nannten) mit einer Geste liebenswürdigster Zurückweisung.
    «Natürlich möchte sie, Liebes – Ihre Mutter möchte Sie immer sehen», erklärte Miss Bruss mit vom ständigen Telefonieren abgewetzter, schneidender Stimme. Miss Bruss, die kurz nach Mrs Manfords zweiter Eheschließung in deren Dienste getreten war, kannte Nona von Kind an und genoss das Recht, sie selbst jetzt, wo sie schon in die Gesellschaft eingeführt war, mit einer gewissen wohlwollenden Vertraulichkeit behandeln zu dürfen. Wohlwollen gehörte zum Stil des Manford’schen Hauses.
    «Aber schauen Sie sich ihren Terminkalender an, allein den heutigen Vormittag!», fuhr die Sekretärin fort und reichte Nona ein großes, in Saffianleder gebundenes Notizbuch, in dem in schnörkelloser Sekretärinnenhandschrift eingetragen stand:
    «7.30: Mentales Verjüngungstraining
    7.45: Frühstück
    8.00: Psychoanalyse
    8.15: Besprechung Köchin
    8.30: Stilles Meditieren
    8.45: Gesichtsmassage
    9.00: Mann mit persischen Miniaturen
    9.15: Post
    9.30: Maniküre
    9.45: Eurythmische 1 Übungen
    10.00: Ondulieren
    10.15: Modellsitzen
    10.30: Empfang der Muttertagsabordnung
    11.00: Tanzunterricht
    11.30: Geburtenregelungskomitee bei Mrs X»
    «Jetzt ist gerade die Maniküre da, wie immer zu spät. Ihre Mutter leidet entsetzlich darunter, dass alle so unpünktlich sind. Dieser New Yorker Lebensstil bringt sie noch um.»
    «Ich bin nicht unpünktlich», sagte Nona Manford, gegen den Türrahmen gelehnt.
    «Nein, und das ist doppelt verwunderlich. Wo ihr jungen Mädchen die ganze Nacht durchtanzt! Sie und Lita – Sie haben wirklich Ihren Spaß!» Miss Bruss schlug einen geradezu mütterlichen Ton an. «Aber schauen Sie doch einmal diese Liste durch. Sie sehen ja, Ihre Mutter rechnet nicht vor dem Lunch mit Ihnen.»
    Nona schüttelte den Kopf. «Nein. Aber vielleicht können Sie mich dazwischenquetschen.»
    Sie sprach in freundlichem, sachlichem Ton; beide Seiten prüften die Angelegenheit, spürbar bemüht um Unvoreingenommenheit und Verständigungsbereitschaft. Nona war an die Termine ihrer Mutter gewöhnt; war daran gewöhnt, dass sie zwischen Gesundbeter, Kunsthändler, Sozialarbeiter und Maniküren gequetscht wurde. Sobald Mrs Manford ihre Kinder zu sich kommen ließ, war sie eine perfekte Mutter; aber hätte sie in diesem mörderischen New York mit seinen sich ständig mehrenden Verpflichtungen und Verbindlichkeiten ihrer Familie erlaubt, rund um die Uhr hereinzuplatzen und ihr die Zeit zu stehlen, hätten das ihre Nerven einfach nicht ausgehalten. Und wie viele Pflichten wären dann unerledigt geblieben!
    Mrs Manfords Wahlspruch hatte immer gelautet: «Alles hat seine Zeit.» Dennoch gab es Augenblicke, da diese Zuversicht sie im Stich ließ und sie fast glaubte, dass dem nicht so war. Heute Vormittag zum Beispiel, führte Miss Bruss aus, habe sie dem neuen französischen Bildhauer, auf den seit einem Monat ganz New York versessen war, klarmachen müssen, dass sie ihm nicht länger als fünfzehn Minuten Modell sitzen könne, weil sich das Geburtenregelungskomitee um 11.30 Uhr bei Mrs X. treffe.
    Nona fand sich zu diesen Treffen selten ein, denn ihre eigene Zeit war – eher durch die Macht der Gewohnheit als aufgrund echter Neigungen – gänzlich von Gymnastik, Sport und der pausenlosen Hetzerei von einem Nervenkitzel zum nächsten in Anspruch genommen, angeblich dem glücklichen Vorrecht der Jugend. Doch sie hatte oft genug einen flüchtigen Blick auf dieses Schauspiel werfen können: auf das Publikum, bestehend aus gescheiten älteren Damen mit schneeweißem Haar und fein zerknitterten, mürbmassierten Gesichtern, die sich eurythmisch bewegten und ihr Lächeln aus glasigem Wohlwollen aufsetzten wie ihr randloses Pincenez 2 . Sie waren alle von unerbittlichem Ernst, absichtsloser Liebenswürdigkeit und unermesslicher Reinheit und kleideten sich, abgesehen von der jeweiligen «Berühmtheit», die meist schlampig angezogen auftrat, mit Nickelbrille und ungebändigten Haarsträhnen, beinahe zu sorgfältig. Um welches Thema es auch ging, die Damen schienen stets dieselben zu sein; sie vertraten mit stets dem gleichen Eifer die Geburtenregelung und die uneingeschränkte Mutterschaft, die freie Liebe oder die Rückkehr zu den Traditionen der amerikanischen Familie, und weder sie noch Mrs Manford schienen sich klarzumachen, dass
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