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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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Süden von der Wallstreet und in den meisten anderen Himmelsrichtungen von Long Island begrenzte Welt ein romantisch glühendes, unwirkliches Licht sandten; und Pauline Manford sorgte eifrig dafür, dass sich ihre übrigen Gäste in diesem Licht sonnen konnten.
    «Die Cousine meines Mannes» (seit der Scheidung von Wyant zur «Cousine meines Sohnes» geworden) war auch nach siebenundzwanzig Jahren noch eine nützliche Trumpfkarte in der Gesellschaft. Die Marchesa di San Fedele, jetzt eine Frau von fünfzig Jahren, war in Paulines Kreisen noch immer ein Vorwand für Dinner, ein Instrument, mit dem sich gesellschaftliche Schulden abzahlen ließen, ein kleiner, aber zuverlässiger Leuchtkörper am unruhigen Himmel von New York. Beim Anblick ihrer etwas hilflosen, schmächtigen Gestalt, die, auch wenn sie Mrs Manfords alte Kleider trug, stets in gleichmütiges, unauffälliges Schwarz gehüllt war, erschienen vor Paulines innerem Auge hallende römische Treppenhäuser, fackelbeleuchtete Auftritte von Kardinälen in der Empfangshalle der Luceras und ein prächtiges Hintergrundfresko mit Päpsten, Fürsten, verfallenen Palästen, zypressenbewachten Villen, Skandalen, Tragödien und endlosen Erbstreitigkeiten.
    «Es ist entsetzlich, welch lasterhaftes Leben diese berühmten römischen Familien führen. Schließlich fließt in den Adern der armen Amalasuntha gutes amerikanisches Blut – ihre Mutter war eine Wyant; ja, Mary Wyant heiratete den Fürsten Ottaviano di Lago Negro, den Sohn des Herzogs von Lucera, der lange zur italienischen Gesandtschaft in Washington gehörte. Aber was soll Amalasuntha machen, wo es doch in diesem Land keine Scheidung gibt und eine Frau sich mit wirklich allem abfinden muss? Der Papst war sehr freundlich, er steht durchaus auf Amalasunthas Seite. Doch auch Venturinos Angehörige sind sehr mächtig, eine große neapolitanische Familie, ja, Kardinal Ravello ist Venturinos Onke l … Das alles war ganz schrecklich für Amalasunth a … und sie fühlt sich hier bei ihrer Familie wie in einer Oas e …»
    Pauline Manford meinte es ehrlich; sie glaubte tatsächlich, dass es für Amalasuntha schrecklich war. Pauline selbst konnte sich nichts Entsetzlicheres vorstellen als ein soziales Gefüge, das keine Scheidung anerkannte und alle familiären Übel ungestört weiterschwären ließ, statt das Leben der Menschen in regelmäßigen Abständen zu desinfizieren und frisch zu tünchen wie einen Keller. Doch obwohl Mrs Manford so dachte – ja buchstäblich während sie dies dachte –, fiel ihr ein, dass Kardinal Ravello, Venturinos Onkel, als einer der möglichen Gesandten für den römisch-katholischen Kongress genannt worden war, der in diesem Winter in Baltimore stattfinden sollte, und sie fragte sich, ob man nicht mit Amalasunthas Hilfe eine Abendgesellschaft für Seine Eminenz veranstalten könnte. Sie ging sogar so weit, über die Wirkung von seidenbestrumpften Dienern nachzugrübeln, die als Fackelträger das – Gott sei Dank marmorne! – Manford’sche Treppenhaus säumen, und über Dexter Manford und Jim, die den Kirchenfürsten an der Schwelle empfangen und dann mit silbernen Kandelabern in der Hand rückwärts die Treppe hinaufgeleiten könnten. Allerdings war sich Pauline nicht sicher, ob die beiden sich dazu würden überreden lassen.
    Für Pauline lag in diesem zweigleisigen Gedankengang nicht mehr Widerspruch, als wenn sie angesichts der Verbrechen der römischen Kirche erschauerte und sich gleichzeitig wünschte, einen ihrer Würdenträger mit dem geziemenden Zeremoniell zu empfangen. Sie war an solch schnellen Perspektivwechsel gewöhnt und stolz darauf, dass in ihrem Kopf ganze Gruppen widersprüchlicher Meinungen friedlich zusammenlebten wie die «Glücklichen Familien» 9 , die von Wanderzirkussen zur Schau gestellt wurden. Und wenn der Kardinal tatsächlich in ihr Haus kam, würde sie natürlich ihre amerikanische Unabhängigkeit beweisen, indem sie auch den Bischof von New York einlud – ihren Bischof aus der Episkopalkirche –, möglicherweise noch den Oberrabbiner (auch ein Freund von ihr) und selbstverständlich den wunderbaren, viel geschmähten «Mahatma», an den sie immer noch fest glaubt e …
    Der Name ließ sie plötzlich innehalten. Ja, selbstverständlich glaubte sie an den Mahatma. Sie hatte allen Grund dazu. Während sie vor dem großen, dreiteiligen Spiegel in ihrem Ankleidezimmer stand, blickte sie in das riesige Badezimmer dahinter, das mit seinen weißen Fliesen,
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