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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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Höhepunkt der Saison ein ebenso mühsamer wie schwerer Eingriff war.
    In ihrer gereizten Stimmung hätte sie am liebsten Arthur die Schuld daran gegeben, dass er auf dem heutigen Terminkalender stand und damit alle ihre Verabredungen durcheinanderwarf. Der arme Arthur – von Anfang an war er einer ihrer Missgriffe gewesen. Sie hatte einen kleinen Friedhof davon – einen sehr kleinen –, den sie mit Wucherpflanzen bestückt hatte, sodass man ihr ganzes Leben durchwandern konnte, ohne die Gräber zu bemerken. Für die unerfahrene, eben erst dem Fabrikqualm von Exploit entronnene Pauline von vor dreißig Jahren verkörperte Arthur Wyant den verführerischen Gegensatz zwischen einer Stadt, die einzig damit beschäftigt war, Geld zu verdienen, und einer Gesellschaft, die entschlossen war, es auszugeben. So eine glänzende Erscheinung – und nichts vorzuweisen! Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte; ihr Ideal von männlichen Großtaten bestand damals einzig aus der Fähigkeit, schneller reich zu werden als die Nachbarn – was Arthur mit Sicherheit niemals schaffen würde. Sein Schwiegervater in Exploit hatte auf den ersten Blick erkannt, dass es zwecklos war, ihn ins Automobilgeschäft einzuführen, und mit philosophischer Gelassenheit zu Pauline gesagt: «Am besten betrachtest du ihn einfach als Schmuckstück; das werden wir uns schon leisten können.»
    Aber Schmuck muss zumindest glänzen, und Arthur war irgendwie – verblasst. Früher einmal hatte sie gehofft, er werde eine Rolle in der Staatspolitik spielen – am Horizont lockten Washington und seine verführerischen diplomatischen Kreise –, aber er tat dies, ebenso wie das von ihm so genannte «Geschäft», mit einem verächtlichen Achselzucken ab. In Cedarledge trieb er ein wenig Landwirtschaft, fuhrwerkte in den Rechnungsbüchern herum und verplemperte ihr Geld, bis sie ihn durch einen professionellen Verwalter ersetzte; in der Stadt spielte er im Club stundenlang Bridge, interessierte sich zeitweilig für Pferderennen und hockte jeden Nachmittag bei seiner Mutter, der alten Mrs Wyant, in dem tristen Haus in der Nähe des Stuyvesant Square, das niemals renoviert worden war und auch jetzt noch mit Carcel-Lampen 11 beleuchtet wurde.
    Immer hatte er sie nur behindert und enttäuscht. Dennoch hätte sie seine Unzulänglichkeit, sein erfolgloses Planen, sein Träumen und Trödeln, ja sogar seine zunehmende Neigung zum Trinken nachsichtig ertragen, wie man es den Ehefrauen ihrer Generation beigebracht hatte, hätte sie nicht zudem entdeckt, dass er «unmoralisch» war. Unmoral konnte eine hochgesinnte Frau nicht stillschweigend hinnehmen, und als sie bei der Rückkehr von einer Ruhekur 12 in Kalifornien feststellen musste, dass er sich auf eine heimliche Affäre mit einer bei seiner Mutter lebenden mittellosen Verwandten eingelassen hatte, forderten sämtliche Pauline bekannten Gesetze der Selbstachtung, ihn zu verstoßen. Entsetzt warf die alte Mrs Wyant die Cousine aus dem Haus und setzte sich für ihren Sohn ein, doch Pauline blieb eisern. Sie wandte sich an den aufstrebenden Scheidungsanwalt Dexter Manford, und unter seinen fähigen Händen wurde die Angelegenheit rasch und diskret, ohne Skandal, Streit oder gegenseitige Schuldzuweisungen erledigt. Wyant zog sich ins Haus seiner Mutter zurück, und Pauline reiste als freie Frau nach Europa.
    Zu Beginn des neuen Jahrhunderts waren Scheidungen in der New Yorker Gesellschaft noch unüblich, und Wyant fühlte sich schlimmer in seinem Stolz verletzt, als Pauline erwartet hatte. Er lebte vollkommen zurückgezogen bei seiner Mutter, besuchte an den vom Gericht vorgeschriebenen Tagen seinen Sohn und versank in einer Art vorzeitigem Greisentum, das in einem sogar für Pauline selbst schmerzlichen Gegensatz zu ihrer eigenen wiedergewonnenen Jugend und Beweglichkeit stand. Dieser Gegensatz verursachte ihr noch lange danach Gewissensbisse, und im Lauf der Zeit, nach ihrer zweiten Heirat und dem Tod der alten Mrs Wyant, betrachtete sie den armen Arthur nicht mehr als Grund zur Klage, sondern als Verpflichtung. Sie hielt sich etwas darauf zugute, dass sie ihre Verpflichtungen nie vernachlässigte, und so stieg in ihr ein begreiflicher Groll gegen Arthur auf, weil er heute in ihrem Terminkalender vorkam und sie dadurch zwang, ihn zu verschieben.
    Sie ging zurück zum Toilettentisch und betrachtete in dem großen, dreiteiligen Glas ihr Spiegelbild. Schon wieder diese feinen Falten um Lider und Lippen, diese
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