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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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gehalten wurde. Denn wie das Stück von Faßbinder und der Historikerstreit hat uns auch diese Rede an das moralische und das politische Klima in der Bundesrepublik erinnert.
    Bezeichnend für dieses Klima sind auch die Äußerungen Walsers über das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das in Berlin erbaut wird. Er war und ist gegen dieses Denkmal. Ich war und bin nicht dagegen, und ich bin nicht dafür. Ich benötige es nicht, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und meine vielen ebenfalls ermordeten Verwandten brauchen es erst recht nicht. Ich habe mich in dieser Sache mit keinem einzigen Wort geäußert.
    Wenn das Mahnmal errichtet sein wird, werde ich es mir ansehen. Ob ich dabei viel empfinden werde, weiß ich nicht, gewiß nicht soviel wie im Dezember 1970, als ich das Bild sah, das durch die Weltpresse ging – das Bild des vor dem Denkmal des Warschauer Gettos knienden Willy Brandt. Damals wußte ich, daß ich ihm bis zum Ende meines Lebens dankbar sein werde.
    Zum ersten Mal nach dem Warschauer Kniefall traf ich Willy Brandt Ende Januar 1990 in Nürnberg: Er war, schon von schwerer Krankheit gezeichnet, gekommen, um den neunzigjährigen Hermann Kesten, den Schriftsteller, den Juden und Emigranten, zu ehren. Ich habe versucht, Willy Brandt mit einigen unbeholfenen Worten zu danken. Er fragte mich, wo ich überlebt hätte. Ich erzählte ihm so knapp wie möglich, daß wir, Tosia und ich, im September 1942 von deutschen Soldaten zusammen mit Tausenden anderer Juden auf ebenjenen Warschauer Platz geführt worden waren, auf dem heute das Getto-Denkmal steht. Dort hätte ich zum letzten Mal meinen Vater und meine Mutter gesehen, bevor sie zu den Zügen nach Treblinka getrieben wurden.
    Als ich mit meinem kurzen Bericht fertig war, hatte jemand Tränen in den Augen. Willy Brandt oder ich? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, was ich mir dachte, als ich 1970 das Foto des knienden deutschen Bundeskanzlers sah: Da dachte ich mir, daß meine Entscheidung, 1958 nach Deutschland zurückzukehren und mich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch, doch richtig war. Fassbinders Stück, der Historikerstreit und die Walser-Rede, allesamt wichtige Symptome des Zeitgeists, haben daran nichts geändert.

 
Ist ein Traum
     
    Es ist der 12. März 1999, Tosias Geburtstag, der Tag, an dem ihr achtzigstes Lebensjahr beginnt. Wir sind allein, es ist sehr still, ein später Nachmittag. Sie sitzt, wie immer, auf dem schwarzen Sofa vor einer unserer Bilderwände, hinter ihr die Porträts von Goethe, Kleist, Heine und Fontane, von Thomas Mann, Kafka und Brecht. Auf dem Schränkchen neben dem Sofa stehen einige Fotos: Andrew, mein Sohn, jetzt fünfzig Jahre alt, nach wie vor Professor der Mathematik an der Universität von Edinburgh, und Carla, seine Tochter, bald zwanzig Jahre alt, Studentin der Anglistik an der Universität von London.
    Ich sitze Tosia gegenüber und tue nichts anderes als das, womit ich einen beträchtlichen Teil meines Lebens verbracht habe: Ich lese einen deutschen Roman. Aber ich kann mich nicht recht konzentrieren und lege das Buch auf den niedrigen Tisch. Für einen Augenblick trete ich auf unseren großen, viel zu selten benutzten Balkon. Das Wetter ist freundlich und angenehm, die Sonne geht unter, es ist ein schönes, vielleicht, wie üblich, ein etwas zu schönes, ein gar zu feierliches Schauspiel. Ich kann mich nicht erinnern, von diesem Balkon aus, obwohl wir hier schon über 24 Jahre wohnen, einen Sonnenuntergang gesehen zu haben. Ist mir Natur etwa gleichgültig? Nein, gewiß nicht. Aber mir ergeht es wie manch einem deutschen Schriftsteller – sie langweilt mich rasch. Auch jetzt werde ich etwas unruhig und kehre unschlüssig ins Wohnzimmer zurück.
    Tosia liest ein polnisches Buch, es sind Gedichte von Julian Tuwim. Ganz leise setze ich mich hin, ich will sie nicht stören. Sucht sie in der Lyrik ihre, unsere Jugend? Bald werden es sechzig Jahre sein, daß wir zusammen sind. Immer wieder haben wir versucht, unsere Trauer zu vergessen und unsere Angst zu verdrängen, immer wieder war die Literatur unser Asyl, die Musik unsere Zuflucht. So war es einst im Getto, so ist es bis heute geblieben. Und die Liebe? Ja, es gab Situationen, unter denen Tosia viel gelitten hat. Es gab auch, weit seltener freilich, Situationen, unter denen ich gelitten habe. In seinem »Tristan« schrieb vor etwa achthundert Jahren Gottfried von Straßburg: »Wen nie die Liebe leiden ließ, / dem
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