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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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einem Nationalstolz, der seinen Blick benebelt hat? Der Patriotismus ist noch nichts Negatives – und doch macht er mich oft mißtrauisch. Denn nur ein Schritt trennt ihn vom Nationalismus, und es ist wiederum bloß ein Schritt, der zwischen dem Nationalismus und dem Chauvinismus liegt.
    Mir gefällt Nietzsches Diktum, man solle Völker weder lieben noch hassen.
    Oder waren Fests Verhalten und seine Taktik etwa die Folge einer einzigen, einer leichtfertigen Entscheidung, die er möglicherweise getroffen hat, ohne das Manuskript von Nolte aufmerksam geprüft zu haben, und die er auf keinen Fall widerrufen oder revidieren wollte – obwohl hierzu Zeit genug gewesen wäre? Konnte er glauben, ich würde, was er in dieser Sache tat, akzeptieren? Konnte er annehmen, ich würde mich damit abfinden, daß in der Zeitung, in der ich arbeite, geleugnet wird, der Holocaust sei ein Werk der Deutschen? Nein, dies scheint mir ausgeschlossen. Aber es war ihm offenbar unwichtig.
    Woran mag es liegen, daß manche Schriftsteller, Journalisten oder Historiker die Fehler, die ihnen unterlaufen sind, vielleicht insgeheim einsehen, sich aber nicht überwinden können, sie öffentlich zuzugeben? Vermutlich hat diese Unfähigkeit mit einer Schwäche zu tun, deren sie sich schämen, mit einem Mangel an Souveränität und Selbstsicherheit, den sie unbedingt tarnen möchten, mit einer Eitelkeit, die ihre Selbstkontrolle schmälert.
    Sollte das auch auf Fest zutreffen? Ich wäre unehrlich, wollte ich diese Frage unterdrücken. Aber da gibt es noch eine Frage, die mich quält: Ist es denkbar, daß Joachim Fest sich überhaupt nicht dessen bewußt war, was er mir angetan hat, ist es möglich, daß er es immer noch nicht weiß? Der Mensch, dem ich zum größten Dank verpflichtet bin, hat mir auch den tiefsten Schmerz zugefügt. Ich kann es nicht verdrängen, ich kann es nicht vergessen – weder das eine noch das andere.
    Sicher ist, daß der Historikerstreit, auch wenn die Diskussion für die Wissenschaft so gut wie nichts erbracht hat, doch, zumindest teilweise, vom Zeitgeist zeugte. Er entsprach dem Bedürfnis beileibe nicht nur der Rechtsradikalen, das Verhältnis zum Nationalsozialismus zu revidieren. Wie stark dieses Bedürfnis war, zeigte sich im Herbst 1998, als Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche eine Rede hielt, die sich nach dem Stück von Fassbinder und nach dem Historikerstreit als dritte Provokation im Sinne des Mottos »Das Ende der Schonzeit« erwies.
    Walser beschäftigt sich mit dem Jahrhundertverbrechen, dem deutschen (wobei er freilich das Wort »Verbrechen« sorgfältig vermeidet), und mit deutscher Schuld (wobei er auch diese Vokabel umgeht). Ihn irritiert die Frage, was gestern geschehen ist und wie wir uns heute dazu verhalten dürfen oder sollen oder müssen.
    Hat Walser in dieser monatelang heftig diskutierten Rede das Wegschauen von der deutschen Vergangenheit empfohlen, wollte er das Kapitel Auschwitz beenden und den berüchtigten Schlußstrich ziehen? Er hat es bestritten. Daß aber viele Zeitgenossen seine Rede, in der es von vagen Formulierungen und bösartigen Anspielungen wimmelt und von Beschuldigungen, denen die Adressaten fehlen, so und nicht anders verstanden haben – konnte das wirklich Walser überraschen? Sicher ist: Er hat nichts getan, um den voraussehbaren Mißverständnissen, wenn es denn welche waren, vorzubeugen. Im Gegenteil: Sein trotziges Bekenntnis zum Wegschauen von nationalsozialistischen Verbrechen war, ob er es wollte oder nicht, ein Aufruf zur Nachahmung seines Verhaltens.
    Er hat die gefährlichsten deutschen Ressentiments formuliert, er hat wiedergegeben, was an den Stammtischen zu hören ist – und er hat neue Argumente und neue Formulierungen geliefert: für diese Stammtische, für die extreme Rechte und für alle, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Juden nicht mögen. Walsers Schlußstrich ähnelt auf fatale Weise einem Trennungsstrich zwischen den Deutschen, die, das behauptet er, seine Rede als »Befreiungsschlag« empfunden hätten, und jenen Bürgern dieses Landes, die sein wichtigster Gesprächspartner, Ignatz Bubis, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, repräsentiert.
    Ich will nicht verheimlichen, daß mich Walsers Rede tief getroffen und verletzt hat – nicht zuletzt deshalb, weil sie von einem Schriftsteller verfaßt wurde, dessen Werk ich seit 1957 kommentierend begleite. Aber es hat auch seine gute Seite, daß sie geschrieben und
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