Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
offenbar nicht auf die Idee gekommen oder hielt es nicht für opportun, was nach unserer langjährigen engen Zusammenarbeit die Fairneß geboten hätte – mir Noltes Artikel vor dessen Veröffentlichung zu zeigen.
    Manche Redakteure der »Frankfurter Allgemeinen« zeigten sich irritiert, manche entsetzt. Derartiges hatte man in dieser Zeitung noch nie gelesen. Es wurde vermutet, Fest habe den provozierenden Artikel nur drucken lassen, um eine in seiner Schublade befindliche, eine überzeugende und effektvolle Erwiderung bringen zu können. Die Sache war schon deshalb wichtig, weil Noltes Thesen auf erstaunliche Weise den Parolen der Rechtsradikalen entsprachen, von den (oft antisemitischen) Schlagworten der Stammtische ganz zu schweigen. Aber es kam anders: Es kam nichts. Im Gegenteil: Die der »Frankfurter Allgemeinen« zugeschickten, gegen den skandalösen Artikel gerichteten Beiträge wurden von Fest allesamt ohne Begründung abgelehnt. Einige Kollegen meinten, ich, gerade ich solle unbedingt auf Noltes wirre und verantwortungslose Darlegungen antworten. Das wollte ich nur tun, wenn mich Fest hierzu aufforderte. Doch davon war keine Rede.
    Eine Polemik gegen Nolte und wenige andere Historiker, die ebenfalls eine ähnliche Revision der Geschichtsschreibung wünschten, konnte man erst nach fünf Wochen lesen: Jürgen Habermas hatte sie verfaßt, doch erschien sie nicht etwa in der »Frankfurter Allgemeinen«, sondern in der »Zeit«. Die »Frankfurter Allgemeine« wartete nur mit einigen Leserbriefen auf. Die längst fällige und immer wieder bei Fest angemahnte Antwort auf Noltes Thesen gab es schließlich auch in der »Frankfurter Allgemeinen«, aber erst nach zwölf Wochen; Fest schrieb sie selber. Er hat, wir trauten unseren Augen nicht, Nolte mit Nachdruck verteidigt, er hat sich mit dessen Argumenten – mit beinahe allen – solidarisiert, er hat die wenigen Einwände, auf die er doch nicht verzichten wollte, nur zögernd und offenbar mit großer Überwindung vorgebracht. Von diesem Augenblick an stand in der deutschen und auch in der ausländischen Presse der Name Fest immer häufiger neben dem Namen Nolte. »Es tut mir lang schon weh, / Daß ich dich in der Gesellschaft seh!« – sagt Goethes Gretchen.
    Die Absurdität der Gedanken Noltes und die Fatalität des Plädoyers von Fest zeigte Eberhard Jäckel in der »Zeit«. Man konnte aufatmen. Es folgten viele weitere Artikel – vor allem in der »Zeit«, aber auch in anderen Blättern: im »Spiegel« und im »Merkur«, in der »Frankfurter Rundschau« und in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Der »Zeit« war ein journalistischer und moralischer Triumph in den Schoß gefallen. Es entstand eine beispiellose Situation: Die von der »Frankfurter Allgemeinen« ausgelöste Debatte fand überall statt, nur nicht in der »Frankfurter Allgemeinen« selber. Dem Ansehen des Feuilletons dieser Zeitung, das gern (und oft nicht zu Unrecht) auf seine Toleranz und seine Liberalität verwies, war ein ernster Schaden zugefügt worden – unzweifelhaft von Joachim Fest. Nicht wenige meinten, die »Frankfurter Allgemeine« sei kompromittiert und Fest auf dem Tiefpunkt seiner Karriere angelangt.
    Der weitere Verlauf des Historikerstreits gehört nicht hierher. Aber zu Ehren der Mehrheit der deutschen Zeitgeschichtler sei es gesagt: Die von Nolte und seinen Gesinnungsgenossen angestrebte Revision des Geschichtsbildes ist nicht erfolgt. Nolte hat seine Ansichten nie geändert, vielmehr trat er zur Zufriedenheit der Rechtsradikalen nach wie vor an die Öffentlichkeit mit haarsträubenden und immer schärferen Formulierungen. So verkündete er, Hitler sei berechtigt gewesen, alle deutschen Juden zu internieren und zu deportieren. Er scheute sich nicht, Juden mit Ungeziefer zu vergleichen: Die von ihm selber gestellte Frage, ob die Nationalsozialisten Juden je grausam behandelt hätten, verneinte Nolte, denn sie seien »ohne grausame Absicht« umgebracht worden, »wie man Ungeziefer, dem man ja auch nicht Schmerzen bereiten will, weghaben möchte«.
    Noch im Dezember 1998 rühmte Nolte die Waffen-SS als »Höhepunkt des Kriegertums schlechthin« und erwartete, daß man deren Geschichte »mit Herzblut« beschreibe, und zwar »obwohl, ja weil man weiß, daß die großen Waffentaten innerlich und bis zu einem gewissen Grad sogar äußerlich mit dem Extrem eines unritterlichen Verhaltens verknüpft waren, nämlich der Tötung von Wehrlosen, zumal von ›Minderwertigen‹ und Juden«.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher