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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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daß er zu Hause das Schreiben erlernt.« Meine Mutter zögerte keinen Augenblick: »Gleich in die zweite. Ich habe eine ältere Tochter, die wird ihm das Schreiben beibringen. Das wird er schon erlernen.« Wenn ich diese Geschichte heute deutschen Autoren erzähle, füge ich hinzu: »Und er hat es bis heute nicht gelernt.« Unseren oft mit einem kindlichen Gemüt gesegneten Schriftstellern bereitet diese Äußerung geradezu diebisches Vergnügen.
    Die Folgen ihrer Entscheidung hat meine Mutter nicht geahnt: Daß ich nicht schreiben konnte, interessierte niemanden in der Klasse. Daß ich aber als einziger schon Bücher las und darüber im Unterricht gelegentlich stolz und leichtsinnig berichtete, hat den Neid der Mitschüler geweckt. Von Anfang an fiel ich aus dem Rahmen, ich war ein Außenseiter. Daß es so bleiben würde, konnte ich schwerlich wissen: In welcher Schule ich auch war, in welcher Institution ich auch gearbeitet habe, ich paßte nie ganz zu meiner Umgebung.
    Doch alles in allem hatte ich in dieser evangelischen Volksschule nicht viel Kummer, zumal ich von unserer Lehrerin, einem deutschen Fräulein namens Laura, freundlich behandelt wurde. Das hatte einen guten Grund: Sie entlieh von meiner Mutter neue deutsche Bücher, die diese immer wieder aus Berlin bezog. Noch kann ich mich entsinnen, worauf das Fräulein, deren stattlicher Busen mich sehr beeindruckt hat, ungeduldig wartete. Es war keines der großen Kunstwerke jener Zeit, wohl aber ein Roman, der damals ganz Europa irritierte: Remarques »Im Westen nichts Neues«.
    Meine eigene Lektüre war nicht originell: Ich las viel, doch ungefähr dasselbe wie andere Kinder auch, nur eben erheblich früher. Am stärksten sind in meinem Gedächtnis geblieben: der Dickens-Roman »Oliver Twist« und Defoes »Robinson Crusoe«, beide Bücher wohl in den üblichen Bearbeitungen für die »reifere Jugend«. In noch höherem Maße hat mich ein Buch ganz anderer Art fasziniert: ein mehrbändiges deutsches Konversationslexikon. Vermutlich waren es die in ihm enthaltenen Illustrationen, von denen ich mich nicht losreißen konnte. Damals begann meine Vorliebe für Nachschlagebücher jeglicher Art.
    Aber die folgenreichsten Eindrücke kamen von der Musik. Meine Schwester spielte Klavier, ich habe in unserer Wohnung häufig Bach und, häufiger noch, Chopin gehört. Zugleich hatte mich ein ganz anderes Instrument begeistert: das Grammophon. Wir hatten viele Platten, die mein Vater, ungleich musikalischer als meine Mutter, ausgesucht hatte. Neben populären symphonischen Werken, modern in seiner Jugend – von Griegs »Peer Gynt«-Suiten bis zu Rimskij-Korsakows »Scheherazade« –, waren es vor allem Opern: »Aida«, »Rigoletto« und »Traviata«, »Boheme«, »Tosca« und »Madame Butterfly«, »Bajazzo« und »Cavalleria Rusticana«. Es gab auch eine Wagner-Platte, eine einzige: Lohengrins Gralserzählung. Ich wurde nicht müde, immer wieder dieselben Arien, Duette und Ouvertüren zu hören. Aus dieser Zeit stammen meine leise Abneigung gegen Grieg und Rimskij-Korsakow und meine unverwüstliche Liebe zur italienischen Oper, zu Verdi vor allem, aber auch zu Puccini, dem ich bis heute die Treue gehalten habe.
    Im Frühjahr 1929 passierte in unserer Familie allerlei, was ich wahrnahm, ohne es verstehen zu können. Ich sah die Tränen meiner Mutter und die Hilflosigkeit meines Vaters, ich hörte sie jammern und klagen. Ihre Aufregung und Verzweiflung wurden von Tag zu Tag größer. Uns allen – das spürte auch das Kind – stand ein schreckliches Unheil bevor. Die Katastrophe ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie hatte zwei Gründe: die große Wirtschaftskrise und meines Vaters Mentalität. Er war solide und anspruchslos, gütig und liebenswert. Nur hatte er leider den falschen Beruf gewählt, denn von kaufmännischen Fähigkeiten konnte bei ihm nicht die Rede sein: Er war ein Geschäftsmann und Unternehmer, dessen Geschäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichts einbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später einsehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit umschauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative. Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Charakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglückselige Weise seinen Lebensweg.
    Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte er in Włocławek – wahrscheinlich mit dem Geld seines Vaters – eine Firma gegründet, eine kleine Fabrik, in der
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