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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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    Ich träume oft vom Hotel Delfin.
    Im Traum bin ich ein Teil davon. Und zwar als eine Art Dauerzustand. Der Traum suggeriert das ganz deutlich. Das Hotel Delfin ist verzerrt und schmal wie ein Schlauch. Es wirkt eher wie eine lange, überdachte Brücke. Eine Brücke, die sich von uralten Zeiten bis in die Endzeit des Universums erstreckt, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und mittendrin bin ich. Jemand weint. Weint um mich.
    Das Hotel umhüllt mich. Ich kann seinen Puls fühlen, seine Temperatur spüren. Im Traum bin ich ein Teil des Hotels.
    Das ist mein Traum.
    Ich wache auf. Wo bin ich? Ich denke es nicht nur, sondern stelle mir die Frage laut: »Wo bin ich?« Eine sinnlose Frage. Als wüsste ich es nicht: Ich bin hier. Mitten im Leben. In meinem Alltag, mit allen Dingen, die zu mir, einer realen Existenz, gehören. Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, all den Situationen und Ereignissen, bei denen ich eine Rolle gespielt habe, jemals zugestimmt zu haben. Hin und wieder ist da eine Frau, die neben mir schläft. Doch meistens bin ich allein. Es gibt lediglich die Autobahn direkt vor meinem Fenster, ein Glas – mit einem Restschluck Whiskey – an meinem Bett und das feindselige – oder vielleicht auch nur gleichgültige – diesige Morgenlicht. Manchmal regnet es. Dann bleibe ich im Bett und träume vor mich hin. Und kippe den Rest Whiskey. Ich schaue den Regentropfen zu, die von der Traufe rinnen, und denke dabei an das Hotel Delfin. Irgendwann räkele ich mich, langsam und wohlig. Das genügt mir, um mich zu vergewissern, dass ich einfach nur ich bin und nicht Teil von etwas anderem. Aber das Gefühl im Traum hat sich noch nicht verflüchtigt. Es ist so plastisch, dass ich meine Hand danach ausstrecken und es berühren könnte. Dann würde das gesamte Bild, in dem ich mich befinde, in Bewegung geraten. Wenn ich angestrengt lausche, kann ich hören, wie sich langsam eine Reihe von Szenen abzuspielen beginnt. Eine nach der anderen, in Kaskaden. Ich lausche aufmerksam. Höre, wie jemand leise, kaum wahrnehmbar weint, ein Schluchzen irgendwoher aus dunkler Tiefe. Jemand weint um mich.
    Das Hotel Delfin existiert wirklich. Es befindet sich in einem unscheinbaren Winkel von Sapporo. Vor einigen Jahren habe ich eine Woche dort übernachtet. Wenn ich mich recht entsinne, war es vor vier Jahren. Nein, vor viereinhalb, um genau zu sein. Ich war noch in den Zwanzigern. Die Woche dort verbrachte ich mit einem Mädchen. Sie war es, die das Hotel ausgesucht hatte. Da übernachten wir. Sie hatte darauf bestanden. Sonst wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, in einem solchen Kasten abzusteigen. Das Hotel war eine schäbige Bruchbude. Während unseres gesamten Aufenthalts haben wir, soweit ich mich erinnere, keinen anderen Gast gesehen. Ein paar Figuren lungerten zwar in der Lobby herum, aber wer weiß, ob sie tatsächlich Gäste waren. Es fehlten immer einige Schlüssel an der Rezeption, was die Vermutung nahe legte, dass außer uns noch andere hier logierten. Falls überhaupt, konnten es nicht viele sein. Wenn irgendwo in der Großstadt ein Schild mit der Aufschrift Hotel aushängt und die Telefonnummer im Branchenbuch steht, sollte man eigentlich davon ausgehen können, dass sich Gäste einfinden. Doch falls es noch andere außer uns gab, dann mussten sie extrem schüchtern und leise sein. Man hörte weder den geringsten Mucks, noch gab es irgendein sichtbares Zeichen ihrer Anwesenheit – außer der täglich wechselnden Anordnung der Schlüssel am Bord. Vielleicht waren es Schattengestalten, die mit angehaltenem Atem an den Korridorwänden entlangschlichen. Gelegentlich hörten wir das quietschende Rumpeln des Aufzugs, doch sobald er stoppte, herrschte wieder bleierne Stille.
    Ein ziemlich skurriles Hotel.
    Es kam mir vor wie eine Sackgasse der Evolution, wie ein genetischer Rückschritt. Eine Missgeburt der Natur, die einige Organismen irreversibel auf die falsche Fährte gebracht hatte. Der evolutionäre Vektor war aufgehoben. Verwaiste Lebensformen kauerten im Dämmerlicht der Geschichte, im Tal der ertrunkenen Zeit. Und niemand war dafür verantwortlich. Keiner trug die Schuld, keiner würde sie erlösen.
    Man hätte das Hotel niemals an diese Stelle bauen dürfen. Das war der Kardinalfehler, der alles Weitere zum Scheitern verurteilte. Wie ein von oben falsch geknöpftes Hemd. Jeder Versuch, die Dinge ins Lot zu bringen, führt lediglich zu einer feinen, aber nicht unbedingt eleganten Unordnung. Alles wirkt
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