Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
Autobusse mit Sitzbänken auf dem Dach, es gab dort Treppen, die sich pausenlos bewegten, so daß man nur auf ihnen zu stehen brauchte, um nach oben oder nach unten zu kommen.
    Der Weg war weit, erst abends würde ich in jener Märchenwelt anlangen, die mir meine Eltern ausgemalt, in jenem Traumland, das sie mir versprochen hatten. Neugierig wartete ich auf das Ende der Bahnfahrt – und diese Neugierde war es, die alle Bedenken und Befürchtungen verdrängte. So dachte ich, vor Erregung fiebernd, an das Wunder, das ich zu erleben hoffte – das Wunder Berlin.

 
    Halb zog sie ihn, halb sank er hin
     
    Am Bahnhof Zoologischer Garten nahm mich eine dunkelhaarige, elegante Dame im Alter von etwa vierzig Jahren in Empfang. Es war die Tante Else, die Ehefrau von Onkel Jacob. Spät muß es gewesen sein, denn als wir in der Wohnung ankamen, waren meine beiden Vettern und die Cousine nicht zu sehen, sie schliefen schon, der Onkel war auch nicht da. So saß ich an dem runden, großen Eßtisch, der wohl für zehn, wenn nicht für zwölf Personen gereicht hätte, allein mit der Tante. Doch gab es noch jemanden im Zimmer: Eine anmutige, adrett ausschauende junge Frau; sie trug ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze und – zu meiner Verblüffung – auch noch weiße Glacéhandschuhe. Schweigsam und würdevoll servierte sie das Abendessen. Alles war hier überaus vornehm. Von dieser mir fremden Welt verständlicherweise eingeschüchtert, antwortete ich auf die mir gestellten Fragen ängstlich und nur einsilbig. So breitete sich bald eine beklemmende Stille aus.
    Natürlich konnte ich nicht wissen, was sich dahinter verbarg. Aber sehr bald spürte ich, daß der bemühte, der angestrengte Stil dieses Hauses unecht war. Hier herrschte eine ausgesprochene Künstlichkeit, kalt und feierlich. Der Onkel Jacob, der doch aus ärmlichen Verhältnissen stammte, war ein tüchtiger, ein beinahe prominenter Rechtsanwalt und Notar, ein höchst ehrgeiziger Emporkömmling, stolz auf seine in der Tat beträchtlichen Erfolge. Auch seinen Brüdern ging es gut, auch sie lebten im Wohlstand. Doch nur ihm war daran gelegen, seinen gesellschaftlichen Aufstieg mit allem Nachdruck zu demonstrieren. Er brauchte Statussymbole, er war auf sie geradezu erpicht und angewiesen. Die Pracht der Gründerzeit entsprach seinem Geschmack, ihm imponierte der Pomp der Jahrhundertwende.
    Daß ihm das Reiten Spaß machte, kann ich mir nicht vorstellen. Gleichwohl gehörten zu seinem Hausstand zwei schöne, angeblich besonders wertvolle Reitpferde; das eine hieß »Avanti«, das andere bezeichnenderweise »Aristokrat«. Jeden Morgen pflegte er zusammen mit seiner Frau zu reiten – im nahe gelegenen Tiergarten, wie es sich schickte. Aristokratisch war auch, zumindest seiner Ansicht nach, die Gegend, in der er sich niedergelassen hatte: Die Familie, die mich, den Sohn des verkrachten Kaufmanns aus der polnischen Kleinstadt, gütig aufgenommen hatte, wohnte nicht etwa in einem der schönen Stadtteile im Westen Berlins, nicht in Dahlem oder in Grunewald, sondern in der Roonstraße, gleich neben dem Reichstag. Gelegentlich wurden wir Kinder darauf hingewiesen, daß in der unmittelbaren Nachbarschaft eine Zeitlang Bismarck residiert habe.
    In der für meine Begriffe kolossalen Wohnung erstaunte mich ein exotisch anmutender und mit Pflanzen aller Art überladener Raum. Das war, wie man mir erklärte, der Wintergarten. In diesem Raum war fortwährend ein leises Plätschern zu hören. Denn es befand sich dort in einem Winkel ein hellblauer, gar nicht kleiner und unaufhörlich sprudelnder Springbrunnen. Zwischen dem Speisezimmer und dem Salon, der Musikzimmer genannt wurde, gab es zwei vom Fußboden bis zur Decke reichende Marmorsäulen. An der Wand dieses Zimmers hing zwischen vielen anderen Gemälden auch ein Bild, das ein auf dem Boden liegendes, orientalisch gekleidetes Weib zeigte. Es schaute sehnsüchtig und herausfordernd auf das Gesicht eines Mannes, dessen Kopf auf einem silbernen Tablett lag. Später hat mich einer meiner Cousins nicht ohne Stolz belehrt: »Das ist die Mammi als Salome.« Die Tante Else war, bevor sie den Bruder meiner Mutter heiratete, in ihrer Geburtsstadt Köln Schauspielerin gewesen. Damit mochte es zusammenhängen, daß in dieser Wohnung alles theatralisch anmutete.
    An jenem ersten Abend in Berlin, da ich allein mit der Tante an dem mächtigen Tisch saß, bekam ich auch ein weiches Ei. Kaum hatte ich es gegessen, da nahm die Tante die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher