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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Lebens, wohl der entscheidende. Über der unsichtbaren Pforte zu diesem Kapitel gab es also drei Inschriften, drei Losungen: Fräulein Lauras so sehnsüchtige wie freundliche Vision vom Land der Kultur, Tante Elses strenge Mahnung zur deutschen Ordnung und die Züchtigung, die der Lehrer Wolf sachlich und energisch vorgenommen hatte. Recht so, Zucht und Ordnung mußten sein. Doch wie war das möglich: Im Land der Kultur wurden Kinder von ihren Erziehern mit einem Rohrstock geprügelt. Da konnte etwas nicht stimmen.
    Nein, ich habe diesen Widerspruch damals natürlich nicht verstanden, nicht einmal geahnt. Nur habe ich an meinem ersten Schultag in Deutschland gleich etwas zu spüren bekommen, was ich nie ganz überwinden konnte, was mich ein Leben lang begleitete. Begleitete? Nein, sagen wir lieber: begleitet. Ich meine die Angst – vor dem deutschen Rohrstock, dem deutschen Konzentrationslager, der deutschen Gaskammer, kurz: vor der deutschen Barbarei. Und die deutsche Kultur, die mir das Fräulein Laura so nachdrücklich und schwärmerisch angekündigt hatte? Auch sie ließ nicht lange auf sich warten. Ziemlich schnell geriet ich in den Bann der deutschen Literatur, der deutschen Musik. Zu der Angst kam also das Glück hinzu – zur Angst vor dem Deutschen das Glück, das ich dem Deutschen verdankte. Auch hier ist das Präsens durchaus angebracht, also: verdanke, immer noch verdanke.
    In der Charlottenburger Volksschule erging es mir nicht so schlecht: Ich wurde weder geprügelt noch schikaniert. Aber ganz einfach war es nun doch nicht. Indes haben mir nicht die Lehrer den Alltag erschwert, sondern die Mitschüler. Sie sahen in mir – und verwunderlich war das nicht – den Ausländer, den Fremden. Ich war etwas anders gekleidet, ich kannte ihre Spiele und Scherze nicht, noch nicht. Also war ich isoliert. Schlichter ausgedrückt: Ich gehörte nicht dazu.
    Alles in dieser Schule war mir neu, auch der simple Umstand, daß in der ersten Deutschstunde von einem der Jungen – es war der Vertrauensmann der Klasse – auf Weisung des Lehrers einem an der Wand hängenden Schrank eine größere Zahl von Büchern entnommen und verteilt wurde. Jeder Schüler erhielt ein Exemplar, aus dem er dann etwa eine halbe Seite vorlesen mußte. Ich schaffte das einigermaßen, aber das Buch begeisterte mich nicht, mit dem Autor konnte ich nicht viel anfangen – und kann es bis heute nicht. Es handelte sich um Peter Roseggers »Als ich noch der Waldbauernbub war«. Böcklin und Rosegger – so gut meinte es das Leben mit mir nun doch nicht.
    Im Frühjahr 1930 sollte ich ins Gymnasium, und zwar ins Werner von Siemens-Realgymnasium in Berlin-Schöneberg. Denn wir wohnten inzwischen in diesem Stadtteil, nicht weit vom Bayerischen Platz. Da ich in der Volksschule nur vier Monate gewesen war, gehörte ich zu jenen Schülern, die eine Aufnahmeprüfung bestehen mußten: Deutsch und Rechnen, erst eine schriftliche und dann eine mündliche Prüfung. Um elf Uhr sollte mich meine Mutter abholen. Aber ich wartete schon ab zehn Uhr vor dem Schulgebäude in der Hohenstaufenstraße, geduldig und in bester Laune. Denn ich hatte die schriftliche Prüfung so gut bestanden, daß ich von der mündlichen befreit worden war. Meine Mutter war stolz auf mich.
    Die großzügige Belohnung ließ nicht auf sich warten: Erst bekam ich in der gegenüberliegenden Konditorei einen Kuchen und überdies durfte ich mit meinem Vater in einen Zirkus gehen – es war der berühmte Zirkus Sarrasani, der gerade in Berlin gastierte, ich glaube, auf dem Tempelhofer Feld. Es hat mir schon gefallen, aber das nächste Mal war ich in einem Zirkus erst wieder ein Vierteljahrhundert später – im Sowjetischen Staatszirkus, der 1955 in Warschau auftrat. Diesmal wollte ich meinem damals sechsjährigen Sohn eine Freude bereiten.
    Weder 1930 noch 1955 konnte ich allerdings voraussehen, daß ich einst dem Zirkus einen ungewöhnlichen Erfolg verdanken sollte. Im September 1968 brachte der »Spiegel« eine Rezension des Films »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos«. In diesem Film von Alexander Kluge hätte ich, konnte man lesen, den Direktor des sowjetischen Staats-Zirkus »sehr überzeugend« verkörpert. Ich war glücklich, denn selten geschieht es, daß ein Anfänger der Schauspielkunst von der »Spiegel«-Kritik so vorbehaltlos gelobt wird. Allerdings wußte ich gar nicht, daß ich je jemanden verkörpert hatte, weder auf der Leinwand noch sonstwo. Erfreulicherweise konnte man
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