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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa
Autoren: Anne Holt
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    Die Sache ging mir mit einer seltsamen Gewissheit auf, die ich mir nicht ganz erklären konnte. Ich musste einfach dorthin fahren. Fliehen. Verschwinden. Durchbrennen. Ich koste diese Wörter aus, lasse sie in einer schiefen kleinen Kuhle in meiner Zunge ruhen. Ich finde nichts, was mir schmeckt. Aber jedenfalls buchte ich den Flug und setzte mich in die Maschine.
    Als ich meinen Entschluss fasste, wusste ich nichts über diese Gegend. Ich hatte mir eine Art Südseeinsel vorgestellt, irgendwo im Stillen Ozean. Wo die Südseeinseln eben liegen. Sie ist sicher platt, überlegte ich mir; eine Inselgruppe vielleicht, eine Gruppe Fliegenschiss auf der Karte, von der Art, die einem ungewissen Schicksal entgegenblickt, weil das Meer höher steigen und sie dann brutal verschlingen wird, da der reiche Teil der Welt sich beim Autofahren nicht einschränken will. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir Polynesierinnen mit Blumenketten um den Hals und glücklichem Lächeln vor. Es ist schon seltsam, dass ich es nicht besser wusste, Mauritius war schließlich mein Samarkand. Der Ort, von dem ich immer geträumt hatte. Schon als Kind, meine ich. Und da war es doch auffällig, dass ich nie, kein einziges Mal in meinem Leben, diese Insel in einem Lexikon oder in einem Atlas nachgeschlagen und dass ich auch niemals irgendwen danach gefragt hatte. Ich wusste nur, dass Mauritius weit weg lag, dass es dort schön war, dass die Sonne den ganzen Tag schien und dass die Nacht dunkel und bestimmt vom Zirpen der Grillen erfüllt war.
    Ich musste nach Mauritius. Es stellte sich heraus, dass diese Insel zu Afrika gehörte. Sie lag gleich rechts von Madagaskar, zwei Zentimeter weiter nur, in meinem alten, nach Volksschule riechenden Atlas, und sie ist wirklich ein Fliegenschiss. Aber nur einer. Eine ovale, fast tropfenförmige Insel, von Norden bis Süden an die hundert Kilometer lang, im Durchmesser vielleicht sechzig. Und es ist hier durchaus nicht platt. Im Gegenteil, seltsame scharf geschliffene Berge ragen in den Himmel, sie sehen karg und beängstigend aus. Für diese Insel besteht keine Gefahr, nein, sie wird nicht so schnell verschwinden. Und nicht nur die Berge scheinen ihre Zähne zu zeigen. Fast jeder Fleck bebaubaren Bodens ist von Zuckerrüben besetzt. Das ist eine wütend aussehende Pflanze, stechend und übellaunig, und die riesigen Felder, wenn sie denn so genannt werden, die kilometerlangen Flächen mit Zuckerrohmaterie, zwingen die meisten der etwa eine Million Menschen, die hier leben, dazu, sich an der Küste und entlang der Straße von Port Louis nach Curapine zusammenzudrängen. Am Meer dagegen ist es wirklich so schön, wie ich mir das vorgestellt hatte.
    Das Wasser ist grüner als an jedem anderen Ort, den ich je gesehen habe, und jetzt meine ich wirklich grün, nicht türkis wie in Südfrankreich, nicht dunkles Blaugrün wie vor der südnorwegischen Küste, wenn ein Sturm wütet. Nein, es ist grün wie der Frühling, hell und optimistisch, fast, als habe jemand Farbe ins Wasser gegossen und die Sache danach bereut. Es ist zu grün. Und die Strände sind weiß. Palmen beugen sich über das Wasser und streuen Samenkörner und Rindenstückchen aus, nach denen kleine Fische schnappen, synchron, eine ganze kleine Armada von winzigen Mäulern, als habe irgendein General den Befehl erteilt: Achtung, fertig, los! Schwupp, schon sind sie allesamt wieder verschwunden. Wie haben sie das gemacht? Wovon werden sie angetrieben?
    Ich bin jetzt seit drei Monaten hier. Ohne irgend etwas zu tun, jedenfalls nichts Planmäßiges, nichts, was der Erwähnung wert wäre. Abgesehen davon, dass ich mich über die Organisation der Fische wundere. Ich schwitze mich schlafend durch die Tage. Nachts ersticke ich fast, abgesehen davon, wenn ich, sehr selten, eine Art Ruhe darin finde, dass ich den fremden Sternenhimmel betrachte, mit seinem unbekannten Gesicht (der Orion, zum Beispiel, steht fast auf dem Kopf, jedenfalls hängt er arg schräg und ganz woanders als zu Hause, außerdem kann ich ihn hier besser sehen; das Schwert, das in Oslo oft nicht einmal sichtbar ist, zeichnet sich hier so deutlich ab, so handgreiflich, dass ich fast erwarte, dass er es in einer schönen Nacht einmal ziehen wird). Der Himmel ist so schwarz und dermaßen übervoll von Lichtpunkten, dass ich mir einbilde, die Galaxien sehen zu können; ich spüre für blitzschnelle, wohltuende Momente, dass wir so klein und unbedeutend sind, dass ich mir um nichts Sorgen zu machen
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