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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa
Autoren: Anne Holt
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wusste nicht, ob Rebecca sich in ihrem Büro aufhielt. Wie bei den meisten in ihrer Position bestand ihr Arbeitstag vor allem aus Besprechungen. Synne war sich nicht einmal sicher, dass Rebecca sich überhaupt im Haus aufhielt. Und daran hatte sie nicht gedacht.
    Außerdem war Rebecca viel älter als sie. Auch daran hatte sie nicht gedacht.
    In den Jahren, die auf diese Geschehnisse folgten, versuchte Synne Nielsen oft, festzustellen, wann und wo sie die Grenze überschritten hatten, hinter der es keine Wiederkehr gab. Doch wie sie die Sache auch drehte und wendete, immer landete sie bei diesem Montag Ende Juni. Alles, was später passiert war, war unvermeidlich gewesen, wie ein Lauf über einen Weg, der hinter uns einstürzt, oder vielleicht wie eine Szene aus einem Actionfilm, in der die Heldin über eine am einen Ende sich lösende Hängebrücke jagt, ein Wettlauf mit dem Tod, in Zeitlupe und vor fünf Kameras. Aber als sie dort in ihrem Büro stand und die Hundekacke auf dem Boden anstarrte, handlungsunfähig und mit der plötzlichen Erkenntnis, dass Rebecca sicher zwölf oder dreizehn Jahre älter war als sie (warum sie sich gerade in diesem Moment in die Altersfrage verbiss, sollte ein Rätsel bleiben; denn von allen Abgründen, die zwischen ihnen lagen, war der Altersunterschied doch nur ein kleiner, seichter Riss im Boden), und mit dem starken Gefühl, dass sie sich jetzt gerade lächerlich machte – wenn nicht in den Augen der anderen, dann doch in ihren eigenen –, hätte sie umkehren können. Sie hätte den Hund in die Tasche stopfen, ihre Mutter gesundmelden, Ende Juli Urlaub machen und innerhalb einiger Monate die ganze Geschichte vergessen können. Später ging ihr auf, dass das alles möglich gewesen wäre. Damals. An jenem Montag.
    Synne Nielsen war versessen auf Tage. Sie behielt sie im Gedächtnis. Es gab kein Erlebnis von einer gewissen Größe, das sie nicht in den sieben Archivfächern der Woche hätte unterbringen können. Oft konnte sie sich auch an das Datum erinnern; in vieler Hinsicht war Synne Nielsen ein zeitfixierter Mensch. Sie konnte sich unter anderem auf die Sekunde genau an den Verlust ihrer Unschuld erinnern, und obwohl das seine natürliche Erklärung darin fand, dass an der Wand des Klassenzimmers, in dem es passiert war, eine riesige Uhr gehangen hatte (ein schwarzweißes Monstrum, das vom Rektor ferngesteuert wurde und deshalb peinlich korrekt ging und dessen Sekundenzeiger so laut tickte, dass er fast die Entzückensschreie von Synnes Klassenkameraden übertönte), so war es doch bezeichnend, dass sie sich so viele Jahre später noch immer daran erinnern konnte. Nachmittags um zwanzig vor vier Uhr. Dienstags. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, so erinnerte sie sich an die Uhrzeit besser als an den eigentlichen Vorgang.
    Synne Nielsens Gehirn war erfüllt von Daten, Tagen, Stunden und Sekunden, so sehr, dass ihr oft alles durcheinander geriet, in einer Art Gehirnkatarrh, der sich vor allem nachts einstellte, doch es dauerte niemals lange, bis alles sich wieder zusammenfügte, wie zu einem geistigen Filofax. Die meisten ihrer Bekannten hielten ihre detaillierten Auskünfte über Ort und Zeit in allen Anekdoten für die Würze, mit der sie die Glaubwürdigkeit einer Geschichte von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt steigern wollte, doch Tatsache war, dass sie einfach auf eine anstrengende Unsitte konstruktive Wechsel zog.
    Trotz dieser Zeitversessenheit konnte sie sich später nicht mehr daran erinnern, wie lange sie mit dem Hundebaby auf dem Arm und mit offenen Rücktrittsmöglichkeiten dort gestanden hatte. Mit Sicherheit konnte sie nur sagen, dass sie die Kacke nicht aufgehoben, sondern stattdessen energisch die Tür hinter sich geschlossen hatte und durch den langen Gang gewandert war. Sie machte nicht einmal den Versuch, zu verbergen, was sie da in den Armen hielt.
    Weit vor sich konnte Synne sehen, wie Rebecca Schultz auf ihr eigenes Büro zuwogte.
    Rebecca Schultz wogte wirklich. Sie war eine kräftige Frau, durchaus nicht mollig, in keiner Hinsicht, aber sie wies dort Kurven auf, wo Frauen eben Kurven aufweisen sollten; der abgegriffene Vergleich mit der Eieruhr fiel Synne ein, als sie für einen Moment stehen blieb und einfach nur noch starrte. Rebeccas Aussehen widersprach auf erstaunliche Weise ihrer ethnischen Herkunft; sie hätte kleiner sein müssen, viel kleiner, doch sie war von einer hochgewachsenen nordischen Gestalt. Synne Nielsen hatte die gleichen
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