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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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aber gleich erfahren, wie es zu der schauspielerischen Leistung gekommen war: Kluge hatte im Frühjahr 1968 eine Schriftsteller-Tagung (nämlich der »Gruppe 47« in dem Gasthof »Pulvermühle« im Frankenland) gefilmt und diese Aufnahmen für sein damals vieldiskutiertes Werk »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« verwendet: Den Ton weglassend, hatte er die Tagung der »Gruppe 47« als einen Kongreß von Zirkusdirektoren ausgegeben. In späteren Jahren hat man mir mitunter tatsächlich kleine Filmrollen angeboten. Offenbar versprach man sich davon einen besonderen Jux, denn meist sollte ich einen Kritiker spielen. Ich habe diese Angebote stets abgelehnt, bisweilen mit der aufrichtigen Begründung, daß es mir ohnehin Mühe genug bereite, im Leben, im literarischen, versteht sich, einen Kritiker wirklich »überzeugend« zu mimen.
    Meine Gymnasialzeit begann mit einer geringfügigen Unannehmlichkeit, die ich, obwohl sie kaum erwähnenswert ist, bis heute nicht vergessen habe. In der ersten Unterrichtsstunde wurden wir Sextaner alle in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen: Jeder sollte sein Geburtsdatum und seinen Geburtsort nennen. Alles lief reibungslos ab – bis ich an der Reihe war. Das Datum akzeptierte der Lehrer, ohne sich zu wundern, aber der Ort, den ich nannte, belustigte ihn. Da gab es also in der Klasse einen Schüler, der in einer irgendwo gelegenen, einer fernen, schlimmer noch, in einer unaussprechbaren Stadt geboren war. Der Lehrer versuchte diesen sonderbaren Stadtnamen » Włocławek « allen Schwierigkeiten zum Trotz doch auszusprechen. Die ganze Klasse lachte schallend – und je lauter sie lachte, desto mehr bemühte er sich, sie mit neuen Fassungen zu amüsieren: von »Lutzlawiek« bis »Wutzlawatzek«.
    Wie beneidete ich damals meine Mitschüler, die in Berlin geboren waren, in Breslau oder in Eberswalde. Ich ballte meine Faust, wenn auch in der Hosentasche – und ich sagte etwas Freches. Dafür bekam ich eine kräftige Ohrfeige. Ja, in preußischen Gymnasien wurde man vom Lehrer geohrfeigt, nicht nur in der Sexta, sondern mit Sicherheit auch noch in der Quinta. Nach dieser Ohrfeige, die meine Mitschüler als ganz normal, vielleicht sogar als gerecht empfanden, schwor ich Rache. Ich wußte ja: Wollte ich integriert und sogar geachtet werden, mußte ich mich durch Leistungen im Unterricht auszeichnen. Das war nicht so einfach: Denn ich war bis dahin ein nur mittelmäßiger Schüler.
    Aber ich wurde nun – und dabei mag Trotz eine gewisse Rolle gespielt haben – der Beste in einem Fach, das zunächst Rechnen und wenig später Mathematik hieß. Vielleicht hat diese Zeit doch Spuren hinterlassen. Denn mein Sohn wurde Mathematiker und ein sehr guter überdies. Er ist Professor an der University of Edinburgh, und seine Werke erscheinen in den vorzüglichsten internationalen Verlagen. Sie wurden auch mehrfach preisgekrönt. Aber leider bin ich nicht imstande, sie zu lesen, geschweige denn zu verstehen.
    Lange dauerte meine Liebe zur Mathematik nicht. Als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, vernachlässigte ich das Fach und die meisten anderen ebenfalls. Ein anderes Fach, ein einziges, hatte es mir inzwischen angetan – ein Fach übrigens, das mir für die Rache an jenen Mitschülern, die mich verspotteten, noch viel besser geeignet schien als die Mathematik. Ja, ich rächte mich, ich wurde nun und blieb bis zum Abitur der beste Deutschschüler der Klasse.
    Aus Trotz? Das mag zutreffen, aber so ganz richtig ist es natürlich nicht.
    Da gab es noch einen anderen Faktor, da hat noch ein anderes Motiv mitgewirkt – und es läßt sich kaum überschätzen: Das Lesen von Geschichten, von Romanen und sehr bald auch von Theaterstücken machte mir immer mehr Spaß. Und ehe ich mich’s versah, da war’s um mich geschehn. Ich war glücklich – wohl zum ersten Mal in meinem Leben. Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur.

 
Herr Kästner, seelisch verwendbar
     
    Zunächst las ich, den meist nur beiläufigen Hinweisen und gelegentlichen Ratschlägen unserer Lehrer folgend, die gleichen Bücher wie meine Mitschüler. Auch ich hatte, schon sehr früh, eine Zeit, in der mich populäre historische Romane interessierten – der Bestseller »Ben Hur« des Amerikaners Wallace also und »Quo Vadis« des polnischen Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz, »Der Löwe
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