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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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Zwischenzeiten
    Die Tage in der Rosenstein Clinic, einem renommierten Zentrum für rekonstruktive Chirurgie, vergehen ganz für sich allein, losgelöst von jeglicher Vergangenheit und ohne die Erwartung einer Zukunft. Wie in einem luftleeren Raum schwebend, gehören sie zu keinem Davor und zu keinem Danach, sie verrinnen in einer selbstverständlichen Stille und ich treibe dahin in einem Strom, der mich zu einem Dasein jenseits menschlichen Tuns bringt. Es ist, als gäbe es hinter diesen Mauern keine Welt.
    Die Krankenschwestern haben mich zwischen die Laken gepfropft und ich bin wie ein hilfloses Kind, ein in altmodische Binden gewickelter Säugling. Ich kann meine Arme nicht bewegen, nicht die Beine. Ich kann nur schauen, die Lider auf- und zuklappen, das ist alles.
    Die Ärzte sind gute Geister, die die stoffliche Existenz längst hinter sich gelassen haben. Sie sind von einer gleichbleibenden geduldigen Freundlichkeit, die mich vergessen macht, dass auch sie Schmerzen erleiden können und dass auch ihr Leben Traurigkeit kennt.
     
    Anouk ist gekommen, so wie jeden Tag, heute mit einem Strauß roter Tulpen im Arm. Meine Augen folgen ihr, sie stellt das Kopfteil meines Bettes leicht schräg, sodass ichdurch die Aussparungen, die sie in meinem Verband gemacht haben, ohne Mühe Anouks makellose Züge betrachten kann. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihr Haar und auf eine Hälfte ihres Gesichts.
    Sie beugt sich zu mir herunter, ihre Wangen sind von einem Pfirsichflaum bedeckt, so hauchzart, dass ich ihn nur wahrnehme, wenn sie ganz dicht bei mir ist, und auch nur deshalb, weil das Licht sie schräg von der Seite berührt.
    Sie küsst mich.
    Ja, auch meine Lippen haben sie ausgespart.
    Dann geht Anouk zum Schrank, holt eine Vase, lässt Wasser hinein und stellt die Blumen auf meinen Nachttisch. Irritiert sehe ich die Stängel, die sich wie Schlangen aus dem Glas winden, das Rot der Blütenkelche, das meine ganze Aufmerksamkeit zu absorbieren scheint.
    Lange nachdem Anouk gegangen ist, haftet mein Blick noch immer an den Tulpen. Sie sind so rot,
zu rot
vor dem Weiß, das mich umgibt. Sie sind wie Eindringlinge, wie fremde Wesen, von denen eine unerklärliche Gefahr auszugehen scheint. Ich beobachte, wie die letzten Sonnenstrahlen sie in einem noch irrsinnigeren Rot aufflammen lassen.
    Plötzlich werden sie lebendig. Sie greifen nach mir mit ihren langen Armen, das Rot wird stärker, es breitet sich aus, es wächst ins Unermessliche. Ich spüre Schweiß auf meiner Stirn, in meinem Nacken, unter meinen Verbänden.
    Ich will die Schwester rufen, aber Anouk hat vergessen, mir den Klingelknopf zwischen die Finger zu legen. So starre ich auf das lärmende Rot, das immer
noch
lauter wird, auf die Blüten, die immer näher kommen und mich zu verschlingen drohen.
    Mein Atem geht stoßweise, ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
    Und dann schreie ich.
    Ich schreie so laut ich kann, doch es ist nur ein heiserer und seltsam dürftiger Ton, der da aus meiner Kehle dringt. Auch meine Stimmbänder sind bei dem großen Feuer, wie ich es bei mir stets nenne, verletzt worden. Immer wieder krächze ich: »Help me, help me!«
    So sehr ich mich auch bemühe, es kommt niemand, um mich zu retten. Und irgendwann versinke ich in der gütigen Umarmung einer Ohnmacht.
     
    Als ich erwache, ist es dämmrig im Zimmer, die Tulpen sind immer noch da, doch still und reglos nun. Endlich schaut die Nachtschwester herein. Ich gebe ihr zu verstehen, dass sie den Strauß hinausbringen und das Licht löschen soll. Dann lasse ich mir ein Schlafmittel verabreichen.
    Ich liege im Dunkeln und versuche, zur Ruhe zu kommen. Die Angst hat mich angestrengt. Doch das Bild der lauten Tulpen ist so stark, dass ich noch eine Weile darüber nachgrüble, warum ein harmloser Blumenstrauß – noch dazu ein liebevolles Mitbringsel von Anouk – solch eine starke Reaktion hat auslösen können. Vielleicht haben die Tulpen mir ins Gedächtnis gerufen, dass es dort draußen, hinter diesen Mauern, ein anderes Leben gibt, ein pulsierendes, wildes, buntes Leben, das so viele Farben und so viele Facetten hat. Vielleicht wollten die Tulpen etwas mit Gewalt ans Tageslicht zerren, Fragen in mir aufwerfen nach all den Frühjahren, den Sommern, die ich schon erlebt habe. Und mir zeigen, dass ich
nichts
mehr weiß. Dass das Leben sich nicht in diesem Mikrokosmos hier erschöpft, in dieser weißwattigen, winterlichen Einsamkeit.
    Doch da ist noch ein Gedanke, der mich mehr
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