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Ohrwuermer und Quallenpest

Ohrwuermer und Quallenpest

Titel: Ohrwuermer und Quallenpest
Autoren: Harald Tonollo
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Pauletta Rottentodd
     
    Pauletta Rottentodd saß in einem knarrenden, von Holzwürmern durchlöcherten Schaukelstuhl auf der Veranda und hoffte, dass die tiefschwarzen Wolken sich endlich in einem mächtigen Gewitter über dem aufbrausenden Meer entladen würden. Trotz ihres – auch für eine Rottentodd – sehr hohen Alters von über neunhundert Jahren liebte sie es noch immer, im Schein grell aufflackernder Blitze zu tanzen, als sei sie gerade mal hundertsechzig. Gegen das ohrenbetäubende Grollen des Donners anzusingen, bereitete ihr ein himmlisches Vergnügen – genau wie einst ihren Vorfahren.
    Pauletta Rottentodd versank gerade in der Erinnerung an uralte Geschichten, in denen die Rottentodds noch Meister der Magie waren, als Fynn hinter sie trat.
    »Muss Sie mal stören, Ma’am«, sagte ihr Mitbewohner in seiner rauen, seemännischen Art und kräuselte dabei sorgenvoll die sonnengebräunte Stirn. »An der Treppe zum Obergeschoss hat sich eine weitere Sprosse gelockert.« Er kratzte sicham Hinterkopf und knurrte: »Mich stört’s nicht weiter. Bin mit meinen sechshundertfünfundfünfzig Jahren ja noch ’nen junger Hüpfer. Hab auf See ganz andere Sachen erlebt. Wir hatten da mal ’nen Kahn, der hatte
überhaupt keine
Stufen – immer nur am Tau rauf- und runterklettern … aber Sie sind eine nicht mehr so junge Fregatte, Ma’am. Da kann man sich auf so ’ner ollen Treppe schnell mal die Gräten brechen …«
    »Fynn!«, unterbrach Pauletta Rottentodd den alten Seebären. »Wie lange wohnen wir jetzt zusammen in diesem Haus?«
    Nachdenklich kramte Fynn eine klobige Pfeife und einen ledernen Tabaksbeutel aus der Westentasche. »Seit meiner letzten Seeschlacht – das war im Jahr 1805. Hab damals unter Admiral Nelson für die englische Flotte gekämpft. Den Franzosen und Spaniern hab ich mein Holzbein zu verdanken.« Er klopfte die Pfeife an seinem rechten Bein aus und begann dann, sie hingebungsvoll zu stopfen. »Wir haben die Schlacht aber gewonnen. Hab meinen Teil dazu beigetragen. Könnte Ihnen der alte Nelson bestätigen, wenn er noch leben würde. Jetzt liegt mein rechter Unterschenkel auf dem Meeresgrund. Na ja, wahrscheinlich haben die Fische ihn längst weggefuttert …«, er zündete seine Pfeife an, »… und mit dem Stück Holz da unten lebt es sich verdammt schlecht auf einem Schiff. Nur deswegen bin ich ’ne Landratte geworden. Und nun koche ich für Sie seit über zweihundert Jahren.«
    »Richtig!«, bestätigte Pauletta Rottentodd. »Und wurde in den letzten zweihundert Jahren schon mal irgendetwas in diesem Haus repariert?«
    »Ist mir nicht aufgefallen.«
    »Dann werden wir diese Tradition fortführen, mein lieber Fynn. Das Haus behält auf diese Weise seinen ganz eigenen Stil.«
    Fynn zog genüsslich an seiner Pfeife und ließ den Blick über die Wände schweifen. »Da ist was dran«, brummte er. »Seinen ganz eigenen Stil.«
    Der Wind frischte auf und wehte Pauletta Rottentodd eine Strähne ihres silbergrauen Haares vor die blinzelnden Augen. Sie atmete tief ein und sagte: »In spätestens zwei Stunden wird es ein Gewitter geben.«
    Fynn nickte. »Sie haben ein besseres Gespür für die Wetterlage als so mancher Matrose, Ma’am.«
    Pauletta Rottentodd lächelte und unzählige Fältchen ließen ihre Augen wie zwei kleine Sonnen erstrahlen. »Sieh zu, dass alle Töpfe richtig in ihren Kreisen stehen!«
    »Wird gemacht, Ma’am!« Fynn nahm einen weiteren kräftigen Zug aus der Pfeife und blies eine bläuliche Rauchwolke in die Luft, bevor er im Haus verschwand.

Suche im Regen
     
    Von ferne erklang ein lang gezogenes Grollen. Kurz darauf klatschten die ersten schweren Tropfen auf die Pflastersteine des Bahnhofsvorplatzes von Kiekenförde.
    »So ein Mist!«, meckerte Polly und verzog griesgrämig das Gesicht. »Ein Gewitter hat mir gerade noch gefehlt!«
    »Wie sieht dieser Fynn denn aus?«, fragte ihr Freund Pit und suchte mit unruhigen Augen den Platz nach dem Mann ab, der Polly, Pampe, Palme, Debilius und ihn abholen sollte.
    »Der da drüben schaut so aus, als würde er auf jemanden warten!«, meinte Debilius und ging mit schlaksigen Schritten auf einen älteren Herrn mit dickem Bauch und Filzhut zu, der gerade seinen Regenschirm aufspannte.
    »Sind Sie Synn?«, fragte Pollys Großcousin geradeheraus.
    »Wie bitte?« Der ältere Herr wirkte leicht verstört.
    »Sollen
Sie
uns abholen?«, hakte Debilius nach.
    Der Blick des Mannes wanderte von Debilius’ fettigem Haar über dessen
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