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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden
Autoren: Axel S. Meyer
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1.
    Die Normannen brachten den Tod nach Paris.
    Odo hatte Angst – so große Angst wie niemals zuvor in seinem Leben. Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte der achtjährige Junge die Steintreppe zum Wehrgang hinauf.
    Die Nachricht, dass der Däne Ragnar Loðbrœk mit einer Flotte von einhundertundzwanzig Drachenschiffen gegen die Seineinsel vorrückte, hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Auf den Stadtmauern drängten sich Hunderte Soldaten und Bürger. Hier oben stieß Odo endlich auf seinen Vater Siegfried von Lutetia, den Grafen der Stadt. Siegfried brüllte den Menschen Kommandos zu und verschaffte sich mit rudernden Armen Platz. Seine Soldaten, die mit Schilden, Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, wirkten ratlos und verunsichert.
    Der Junge folgte seinem Vater, der mit versteinertem Gesicht durch die panische Menschenmenge stürmte. Viele Bürger hatten sich bereits für das Osterfest herausgeputzt, das die Stadt am morgigen Sonntag feiern wollte. Immer wieder war Odo versucht innezuhalten, um sich zum Rand der Mauer hochheben zu lassen. Er musste sehen, was sich am gegenüberliegenden Flussufer abspielte. Es schien grauenvoll zu sein.
    Wortfetzen drangen an seine Ohren. «Heiden, Mörder, Gottlose, Brandschatzer», riefen die aufgebrachten Menschen.
    Und immer wieder: «Tod! Tod! Tod! O Gott, Allmächtiger –die Normannen, die Pagani, die Heiden, sie bringen den Tod!»
    Die Luft war erfüllt von Brandgeruch.
    Odo rannte weiter. Er durfte nicht zurückbleiben und seinen Vater im Gewühl verlieren. Erst als der Graf den Eingang zum Turm oberhalb der südlichen Brücke erreichte, hielt er an, um nach ihm zu schauen. Er packte den Jungen am Handgelenk und zog ihn hinter sich her in das finstere Gemäuer. Über eine Wendeltreppe kamen sie auf das runde, von Zinnen umgebene Plateau des höchsten Wachturms der Stadt. Hier trafen sie auf Männer, deren Kleidung verriet, dass sie zu den Befehlshabern der Stadt gehörten.
    Siegfried wandte sich sogleich an einen dicken, rotwangigen Mann, der das Eintreffen des Grafen scheinbar gleichgültig zur Kenntnis nahm. Der Mann mit dem kugelrunden Bauch hieß Ratpot. Er war Siegfrieds Stellvertreter, der zweite Befehlshaber der Stadt. Ein linkischer Kerl mit verschlagenem Blick, von dem man hinter vorgehaltener Hand sagte, er warte nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um Siegfried aus seinem Amte zu drängen.
    Während die Männer beratschlagten, wagte sich Odo bis an den Rand des Turms. Der Ausblick raubte ihm den Atem. Von Osten her floss der große Strom, die Seine, an fruchtbaren Äckern und Weinbergen vorbei. Die Wasserfläche glitzerte geheimnisvoll im Widerschein der am Horizont blutrot untergehenden Sonne.
    Da die Mauern hier oben niedriger waren als am Wehrgang, reckte Odo sich auf die Zehenspitzen und schob seinen Kopf über die Brüstung – und dann sah er den Grund für die Panik.
    Tausende Krieger waren auf Drachenschiffen von Nordenher gekommen, um Tod und Verderben über die Stadt zu bringen, deren strategische Bedeutung darin lag, dass über Paris der für das westfränkische Reich lebenswichtige Nord-Süd-Verkehr abgewickelt wurde.
    Die Schiffe hatten am gegenüberliegenden Ufer festgemacht. Die Krieger wüteten in der Vorstadt und erschlugen jeden Menschen – egal ob Mann, Frau oder Kind   –, der ihnen vor die Schwerter und Äxte kam. Die Gassen waren mit Leichen übersät; die Schreie der Sterbenden drangen bis zu Odo hinauf.
    Aus den Häusern quoll schwarzer Rauch. Flammen durchschlugen die Dächer.
    Die Vorstadt, in der die arme Landbevölkerung lebte, war nicht wie die Insel durch Mauern geschützt. Daher konnten die angreifenden Horden ohne Gegenwehr eindringen. Die Außenposten des Heeres hatten sich auf die Seineinsel zurückgezogen, als sie die Flotte der Barbaren bemerkt hatten. Man hatte die Stadttore geschlossen und die Menschen jenseits der Mauern ihrem Schicksal überlassen.
    Als der Junge ganz in der Nähe gellende Schreie vernahm, schob er sich weiter zwischen den Zinnen hindurch, bis er die Brücke im Blick hatte, unter der die Seine gurgelnd und glucksend die Felsen umspülte. Dutzende Vorstadtbewohner rannten wie eine von Wölfen gehetzte Schafherde über die Südbrücke – direkt in eine tödliche Falle. Immer mehr Menschen stürmten gegen das massive Eichenholztor an. Diejenigen, die als Erste das Tor erreichten, wurden von den nachrückenden Massen zerquetscht. Einige konnten rechtzeitig von der Brücke
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