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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden
Autoren: Axel S. Meyer
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Allisa verharrten. Für den Augenblick eines Wimpernschlags schaute der Krieger zu Odo hinüber. Es kam dem Jungen vor, als bohre sich der Blick des Normannen wie ein Feuerstrahl in sein Herz.
    Dann riss Odo sich von dem Anblick los und rannte davon. Allisa folgte ihm dicht auf den Fersen. Bald darauf kamen sie in eine enge Gasse, die unterhalb der Stadtmauer in den westlichen Teil der Insel führte. Dieser Weg, der sich im Schatten der Häuserrückseiten entlangzog, wurde schon lange nicht mehr als Passage genutzt. Stattdessen entledigten sich die Bewohner hier ihres Mülls; der Unrat stapelte sich an manchen Stellen mannshoch.
    Odo und Allisa kletterten über alte Fässer, Balken undzerbrochene Möbel und hatten beinahe das Ende der Gasse erreicht, als ihnen zwei Krieger entgegenkamen.
    Schnell warfen sich die Kinder hinter einer alten Truhe zu Boden.
    Die Barbaren kamen immer näher, wobei sie ihre Lanzen links und rechts in den Unrat stießen, um Flüchtige aufzuscheuchen. Rasch näherten sie sich dem Versteck. Odo schloss die Augen und begann lautlos zu beten. Die Normannen polterten an den Kindern vorbei, schenkten aber der Truhe keine Beachtung. Für einen kurzen Moment dachte Odo, der Herrgott habe sein Flehen erhört. Doch plötzlich begann Allisa unter der Anspannung und dem Druck zu schreien.
    Sofort machten die Männer kehrt.
    Während Allisa schrie und schrie, zog sich Odo noch tiefer in das Gerümpel zurück. Er machte sich so klein wie möglich, wagte nicht zu atmen.
    Schreckliche Gedanken rasten durch seinen Kopf. Es war vorbei, gleich würden die Krieger sie entdecken und töten.
    Aus den Augenwinkeln sah er schemenhaft riesige Hände auftauchen. Die Pranken griffen hinter die Truhe, bekamen Allisas Haare zu fassen und zerrten das Mädchen mit einem Ruck aus dem Versteck.
    Odo konnte es nicht fassen. Sollten die Männer ihn verschonen?
    Starr vor Angst, spähte er durch einen Spalt in die Gasse. Er sah, wie die bärtigen Männer Allisa die Kleider vom Leibe rissen. Ihre Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee, so unschuldig und unberührt.
    Sollte er Allisa helfen? Doch was konnte er gegen diese Hünen ausrichten, gegen diese übermächtigen Krieger?Sie waren groß wie Bären, und er war klein und schmächtig.
    Odo biss sich auf die Unterlippe. Tatenlos musste er mit ansehen, wie die Krieger sich über das wehrlose Mädchen hermachten wie ausgehungerte Wölfe über ein zartes Lamm. Tränen schossen ihm in die Augen. O Gott, Allisa! Er liebte sie wie eine Schwester. Sie gehörte doch zur Familie!
    Er weinte still, bis die Normannen endlich von ihr abließen. Erst als er sicher war, dass die Männer verschwunden waren, krabbelte er vorsichtig hinter der Truhe hervor. Er beugte sich über Allisas geschundenen Körper. Seine Tränen tropften auf ihre schneeweiße Haut.
    Es war kein Leben mehr in ihr.

4.
    Die städtische Streitmacht hatte sich vor dem Palais versammelt. Mindestens einhundert bewaffnete Soldaten scharten sich um ihren Anführer. Graf Siegfried erteilte brüllend Befehle. Er musste versuchen zu retten, was noch zu retten war.
    Siegfrieds harter Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er zu allem bereit war. Noch gab er diesen Kampf nicht auf. Mut, Entschlossenheit und Gottesfurcht waren die Tugenden, mit denen es der ehemalige Seidenhändler Siegfried von Lutetia, ein Mann mit römischen Wurzeln väterlicherseits, bis auf diesen Posten geschafft hatte. Er war in der bedeutenden Stadt Paris der erste Stellvertreter des westfränkischen Königs Karl – und er war sich seiner Position bewusst.
    Odo näherte sich taumelnd den Soldaten. Beinahe wäre er vor Erschöpfung zusammengebrochen, als Siegfried seinen Sohn endlich bemerkte und ihn in die Arme schloss.
    «Verzeih mir», stieß Siegfried gepresst hervor. «Verzeih mir bitte, mein Sohn, dass ich dich in die Kathedrale geschickt habe. Ich hätte auf dich achtgeben müssen.»
    Rasch brachte er Odo nach Hause, während seine Männer ungeduldig auf die Befehle zum Angriff warteten. Die Barbaren wüteten bereits in fast allen Stadtteilen. Die ersten Häuser brannten. Schwarze Rauchschwaden erhoben sich über den Dächern der Bürgerstadt.
     
    Der Eingang von Odos Elternhaus wurde von zwei Soldaten bewacht, die zu Siegfrieds Garde gehörten. Diese ausgewählte Truppe bestand aus einer Handvoll kampferprobter Männer. Siegfried hatte die beiden abkommandiert, damit sie – notfalls mit ihrem Leben – seinen größten Schatz verteidigten:
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