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Von Der Kunst, Hindernisse Zu ueberwinden

Von Der Kunst, Hindernisse Zu ueberwinden

Titel: Von Der Kunst, Hindernisse Zu ueberwinden
Autoren: Andreas Kalteis
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Einleitung
    Gnadenloser Beton, 3 Meter hoch. Die Mauer rührt sich nicht und wird es auch nicht tun. Sie steht einfach da, zwischen mir und meinem Ziel. Adrenalin fließt in mein Blut, ich atme tief und langsam. »Kämpfen oder flüchten?«, fragen meine Instinkte. »Kämpfen«, antwortet mein Wille. Ich atme noch tiefer, bringe Spannung in meinen Körper, zupfe mir aus Gewohnheit das Shirt und die Hose zurecht und schaue nach oben, zur Kante der Mauer. Kann ich mich dort festhalten? Wird sie dem Gewicht standhalten? Die Passanten bemerken, dass sich irgendetwas anbahnt und sehen mich skeptisch an. Ich registriere das nur nebenbei und konzentriere mich stärker auf die Mauer. Die Oberfläche ist glatt, das erfordert mehr Druck, um nicht abzurutschen. Die Kante ist nicht abgerundet, ich kann mich also gut daran festhalten. Ich habe die wichtigsten Faktoren beleuchtet, das Risiko kalkuliert und entscheide, dass ich die Mauer überwinden werde. Ich spanne meinen Körper an und beuge mich nach vorn. Der Körperschwerpunkt passiert den kritischen Punkt und ich beginne zu sprinten. Ich atme ein, so tief ich kann, und halte die Luft an, während ich die letzten zwei Schritte auf die Mauer zu mache. Dabei beschleunige ich mit aller Kraft und springe auf die Mauer zu. Die Oberfläche ist glatt, um nicht abzurutschen muss ich in einem steilen Winkel mit genügend Druck auftreten. Die Spitze meines Fußes berührt die Mauer, und ich stoße die angehaltene Luft mit einem explosionsartigen Zischen aus. Wie der Kampfschrei beim Kampfsport ermöglicht mir das, alle Kraft in die Bewegung zu leiten. Mit dem Fuß drücke ich meinen Körper von der Mauer ab nach oben. Während ich mit der linken Hand den Abstand zur Wand halte, greift meine rechte Hand weit nach oben. Immer näher komme ich der Kante, strecke meinen Körper, so sehr ich kann. Obwohl das alles im Bruchteil einer Sekunde passiert, fühlt es sich wie eine Ewigkeit an, bis meine Hand der Mauerkante immer näher kommt und ich hoffe, sie zu erreichen. Ab jetzt kann ich nur noch auf meine Fähigkeiten vertrauen. Kontakt. Meine rechte Hand greift fest zu und für einen Moment halte ich das Gewicht meines Körpers nur mit den Fingerspitzen. Auch wenn es jetzt brenzlig ist – bloß nicht aufhören. Ich greife mit der linken Hand nach oben, damit ich einen stabilen Griff bekomme. Der schwierige Teil ist geschafft, weiter geht’s. Ich drücke die Füße gegen die Mauer und schwinge mich darüber. Um zu kontrollieren, dass ich nichts aus meiner Hosentasche verloren habe, drehe ich mich um und schaue nach unten. Ich sehe die Passanten, die stehen geblieben sind, ihre ungläubigen Blicke. Ich schaue ihnen in die Augen und sehe genau, was sie denken: »So was ist doch nicht möglich!?« Ich fühle mich gut, denn ich weiß, dass es doch möglich ist. Ich habe etwas geschafft, von dem die meisten Menschen denken, dass es unmöglich sei. Doch mit dem entsprechenden Training, der richtigen Technik und dem Mut, es auch wirklich zu tun, ist es möglich. Das ist die Kunst, Hindernisse effizient zu überwinden. Das ist: Parkour.
    Parkour, oder im französischen Ursprung »l’art du deplacement« genannt, die Kunst der Fortbewegung, lehrt die Philosophie, Hindernissen positiv zu begegnen und sie als Herausforderungen zu sehen. Jemand, der den Weg des Parkour geht und diese Philosophie lebt, wird »Traceur« genannt, was im Slang der Pariser Vorstädte so viel heißt wie »Einer, der seinen Weg geht«. Die Betonung liegt dabei auf »seinen«. Wir leben in einer Welt, in der wir zwar augenscheinlich alle Freiheiten haben, bei genauer Betrachtung sind wir allerdings sehr eingeschränkt. Was tun Sie, wenn Sie durch die Stadt gehen? Sie laufen auf einem Gehweg oder auf anderen markierten Wegen. Durch Markierungen, Zäune, Absperrungen und Mauern wird Ihnen genau diktiert, wo Sie nicht laufen dürfen. Der Traceur jedoch entscheidet sich, den Weg zu gehen, den er selbst wählt, nicht den, den man ihm vorgegeben hat. Um das zu erreichen, trainiert er seinen Geist und Körper, um deren Potenziale besser nutzen zu können. Nur so kann er Hindernisse, die ihm im Weg stehen, überwinden.
     
    In den 90ern trafen in der Pariser »Banlieue«, den Vorstädten Evry und Lisses, ein Dutzend Jugendliche mit ganz unterschiedlichem sozialen Background aufeinander. Sie taten sich zu einer Gruppe zusammen und entwickelten ihre ganz spezielle Art, mit der harten Realität des Vorstadtlebens fertig zu werden. In
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