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Aschenputtelfluch

Aschenputtelfluch

Titel: Aschenputtelfluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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Kiras Tagebuch
    Allerletzter Eintrag
    Nie hätte ich gedacht, dass ich das hier einmal schreiben würde. Wozu echte Verzweiflung fähig macht! Soll ich es wirklich tun? Ist das tatsächlich der einzige Ausweg?
    Ich bestätige meinen Benutzernamen (kira) und das Passwort (cinderella) und muss nicht lange überlegen. Meine Finger fliegen geradezu über die Tasten, als würde mir ein Geist die Worte zuflüstern, die mich aus dem dunklen Tunnel führen werden.
    Oder will ich nur schnell zum Ende kommen, um diese Geschichte, die mein Leben ist, hinter mich zu bringen? Egal ich kann nicht mehr. Es hat alles keinen Sinn. Wie konnte ich nur hoffen, nach den Ferien hätte sich alles geändert? Es gibt keine Wunder! Nicht für mich!
    Heute Mittag war ich als Erste am Treffpunkt Hauptbahnhof Leipzig. Frau Sturm wartete bereits am Ostausgang. Ich habe sofort auf sie eingeredet, dass ich das Zimmer wechseln möchte.
    »Ihr seid genau acht Mädchen in eurem Jahrgang, Kira. Die Zweibettzimmer sind voll belegt. Ich habe schon alle aufgeteilt! Und du weißt ja, Frau Schüler hat es nicht gern, wenn man ihre Pläne durcheinanderbringt.«
    »Den Neuen ist es egal, mit wem sie zusammenwohnen!«
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    Nur weil die Sturm ihre Röntgenbrille aufhat, glaubt sie, jeden von uns durchschauen zu können, und bildet sich ein, ihr entgehe nichts. Ich kann darüber nur lachen. Selbst wenn ihr Gehirn ein Computertomograf wäre, würde sie niemals hinter unsere Geheim nisse kommen. Blind ist sie! Taub und blind! Wie alle Lehrer. Sie kapieren nichts! Denn sie wollen nichts davon wissen, von den bösen, grausamen Spielen. All die Tränen, die Verzweiflung, die Wut, der Hass sie sind verborgen in unseren dunklen Seelen.
    Jedenfalls musste ich lange auf sie einreden, bis sie nachgegeben hat.
    Und nun? Alles umsonst! Zu spät!
    Meine düsteren Vorahnungen haben sich bestätigt.
    Die Zeit heilt alle Wunden?
    Nein, sie macht sie nur noch schlimmer.
    Wie viele Wochen, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden soll ich noch warten? Wie viele Versuche soll ich noch unternehmen, um aus dem schwarzen Loch herauszukriechen?
    Wen gibt es, der mir darauf eine Antwort geben kann?
    Nein, ich bin müde, möchte mich einfach fallen lassen.
    Ich habe IHN nur kurz am Bahnhof gesehen. KEIN Wort zur Begrüßung. Nicht einmal ein Blick.
    Und die ganze Zeit im Bus ihre Stimme.
    Wie sie mit lauter Stimme erzählt und gelacht hat. Dann wieder dieses Flüstern. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, spürte ich ihre Blicke im Nacken wie Nadelstiche. Ja, klar, ich habe so getan, als würde ich nichts merken. Und doch habe ich die ganze Zeit an nichts anderes gedacht.
    Alles ein abgekartetes Spiel, bei dem ich nur verlieren kann. Denn die Regeln haben sie mir nicht verraten.
    Als ich ausgestiegen bin, fühlte ich mich wie erstarrt und wunderte mich, dass ich überhaupt noch laufen konnte. Und dann begegnete ich IHM, als ich meinen Koffer aus dem Bus holte.
    »Hi, Cinderella!«, sagte er.
    Bevor ich etwas sagen konnte, zog sie ihn weg und murmelte: »Ich frage mich nur, wie lange ihre Vorräte an Gehirnzellen noch reichen, um das hier zu überstehen. Die sind knapper als die Ölvorräte.«
    Klar, dass alle in Lachen ausbrachen.
    Jedes Wort von ihr ist vergiftet. Sie hat mich angesehen, als sie ihn geküsst hat. Ach was, geküsst abgeknutscht hat sie ihn. Ihre lange rosa Zunge in ihn hineingesteckt, als wolle sie ihn verschlucken. Aber sie knutscht jeden Mann einfach ab. Das ist ihre Natur.
    Ich hörte ihr Lachen noch, als ich hier in den Keller flüchtete, um diesen meinen letzten Eintrag in das Tagebuch zu schreiben. Meine Verzweiflung ist so groß, dass ich fast nichts mehr empfinden kann. In mir ist alles kalt. Alles tot.
    Und dennoch wünsche ich mir ein Happy End auf meine Weise. Vielleicht trägt mich der Wind ja auch in die Höhe? Und alles von oben zu betrachten kommt dies nicht einem göttlichen Standpunkt gleich?
    Ich stelle es mir ganz genau vor: Wie alle unten im Schulhof stehen.
    Die ungeduldigen Ermahnungen und falschen Ermunterungen der Eltern: Benimm dich! Dass mir keine Klagen kommen! Streng dich mehr an! Du schaffst das! Ein neues Schuljahr eine neue Chance! Neues Spiel, neues Glück!
    Das Gekreische der Mädchen, die sich zur Begrüßung in die Arme fallen: Oooooh, du hast eine neue Frisur; süüüüüüß deine neue Jacke; cooooool, wir sind in einem Zimmer.
    Und die Jungs: He Alter, was geht ab; na, auch wieder zurück in der Hölle?; schieb
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