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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Kein Zweifel, hier gibt es eine Sensation. Aber es ist weder ein Löwe noch eine Giraffe oder ein Rhinozeros. Die Sensation bin ich. Ich mache Konkurrenz den Nilpferden und den Riesenschlangen. Man folgt mir, man umringt mich, man gafft mich ungeniert an. Die mich staunend begleiten, ohne den Tiger oder das Kamel auch nur eines Blickes zu würdigen, halten ihre Kinder hoch: Offensichtlich werden sie über das sonderbare Wesen aus einem fernen Land belehrt. Die Sensation wäre noch größer, wenn der weiße Fremdling blonde Haare hätte.
    Was ich im Zoo von Nanking erlebt habe, wäre in Peking oder Schanghai nicht passiert, denn dort gab es in jener Zeit schon viele weißhäutige Menschen. In Peking ging ich mit dem mir zugewiesenen Dolmetscher, der mich keinen Augenblick allein ließ, zu einem Spezialladen, in dem Artikel angeboten werden, die nur für westliche Währung zu haben waren, Whisky etwa oder Coca Cola. Ebenfalls von einem Chinesen begleitet, gewiß einem Dolmetscher, kommt mir ein weißer Mann entgegen. Es ist Yehudi Menuhin. Das zufällige Treffen in der gigantischen Stadt verblüfft uns, ich bin wieder einmal sprachlos.
    Was er hier mache, will ich wissen. Er antwortet knapp: »Beethoven und Brahms mit dem hiesigen Orchester.« Was ich tue? »Ich halte hier Vorträge über Goethe und Thomas Mann.« Menuhin schweigt, doch nicht lange – und sagt dann: »Nun ja, wir sind eben Juden.« Nach einer kurzen Pause: »Daß wir von Land zu Land reisen, um deutsche Musik und deutsche Literatur zu verbreiten und zu interpretieren – das ist gut und richtig so.« Wir sehen uns nachdenklich an, schweigend und wohl etwas schwermütig. Zwei oder drei Tage später höre ich Menuhin in Hongkong das Beethoven-Konzert spielen. Kritiker meinen, seine Glanzzeit sei vorbei, er spiele nicht mehr so perfekt wie einst. Vielleicht trifft das zu. Aber nie war das Perfekte seine Sache, wohl aber jenes Göttliche, von dem Einstein sprach.
    Am 22. April 1986 wurde Menuhin siebzig Jahre alt. Kurz darauf feierte man ihn mit einer wunderbaren Veranstaltung in der Godesberger Redoute. Musiker aus aller Welt waren gekommen, auch führende deutsche Politiker. Man bat mich, eine kurze Ansprache zu halten. Ich wählte das Thema, das Menuhins Leben ausfüllte – das große Thema »Musik und Moral«. Die Musik, sagte ich, sei eine Göttin und obendrein die herrlichste, die wir kennen. Aber leider habe sie im Laufe der Jahrhunderte und der Jahrtausende allen zur Verfügung gestanden, die von ihr Gebrauch machen wollten: den Machthabern und den Politikern, den Ideologen und natürlich den Geistlichen. So schwer es uns auch falle, uns damit abzufinden – die Musik sei doch eine Hure, wenn auch womöglich die reizvollste, die es je gegeben hat. Mit Musik habe man Gottesfurcht erzeugt, patriotische Gefühle geweckt und die Menschen in die Schlacht und in den Tod getrieben. Lieder seien von Sklaven gesungen worden und auch von ihren Aufsehern, von KZ-Häftlingen und auch von KZ-Wächtern. Die jungen Menschen, die mit uns zusammen in einem engen Zimmer im Warschauer Getto Mozarts Violinkonzert G-Dur, gespielt von Yehudi Menuhin, gehört haben, sie wurden alle vergast. Der ursächliche Zusammenhang von Musik und Moral sei doch nur ein schöner Wunschtraum, nur ein leichtfertiges Vorurteil.
    Und Menuhin? Er hat in jeder Situation und mit unbeirrbarer Konsequenz Kunst und Leben, Musik und Moral als Einheit begriffen, richtiger gesagt: Er wollte sie unbedingt als Einheit begreifen. Er hat diese Synthese immer wieder gepredigt und gefordert, er hat sie uns weit über ein halbes Jahrhundert lang vorgelebt. Er hat versucht die Violine zu einer Waffe gegen das Unrecht und das Elend auf dieser Erde zu machen. Als Kind sei er überzeugt gewesen – erzählte er oft –, man könne die Menschen mit Bachs Chaconne oder mit dem Violinkonzert von Beethoven wenn auch nicht gut, so doch jedenfalls besser machen. Ich vermute, daß er insgeheim daran bis zu seinem Tod am 12. März 1999 geglaubt hat.
    Aber die hochherzigen, die wahrhaft edlen Bemühungen Yehudi Menuhins – sind sie denn frei von donquichottesken Zügen? Sollte es gar zutreffen, daß dieser Jahrhundertkünstler genial und naiv, beides zugleich und in einem, war? Fontane sagt über den alten Stechlin, er sei »das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind«.War auch Menuhin ein Mann und ein Kind? Was hat er schließlich erreicht?
    Als Thomas Mann einmal von einem Journalisten mit vielen
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