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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand
Autoren: Sabine Friedrich
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Der Junge tauchte plötzlich vor ihm aus dem Wald auf. In einer Kurve, das Licht der Scheinwerfer griff nach ihm, verlor ihn. Packte ihn gleich darauf noch einmal, direkt vor dem Auto, No! I am not Prince Hamlet, nor was meant to be,  er trat auf die Bremse, fluchend. Schleudernd, brachte den Wagen zum Stehen, der Junge taumelte auf ihn zu. Lang, mager, gefangen im Scheinwerferlicht. Ein Winterinsekt. Ohne Jacke. Neun Grad unter Null! Keine Jacke. Zerrissenes Hemd, im Arm ein Bündel, For I have known them all already, known them all. Have known the evenings, mornings, afternoons, have measured out my life with coffee spoons, T. S. Eliot. Geschenk von Julia, er schaltete den Recorder ab. Beugte sich hinüber zur Beifahrertür, stieß sie auf, der Junge stürzte auf den Sitz, keuchend. Er war älter, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Ein junger Mann, Mitte Zwanzig vielleicht: aber schlaksig wie ein Halbwüchsiger, Was ist denn passiert? Hattest du einen Unfall?
    Aber es war kein Auto zu sehen. Irgendwo in den nordöstlichen Ausläufern der Appalachen, in einer Februarnacht, die reglos war vor Frost, das Gesicht des Jungen war grau. Die Nase blutig, offensichtlich gebrochen. Die Lippen aufgeplatzt, das Bündel in seinem Arm war ein Baby.
    Er griff danach, reflexhaft, das Kind schien unverletzt.
    Wimmerte aber: das Wimmern eines Kindes, das schon zu lange geschrien hat, er fischte seine Jacke vom Rücksitz, um es darin einzuwickeln, So rede doch endlich, was ist denn passiert!
    Die Augen des Jungen riesig, leer. Das Kastagnettengeklapper seiner Zähne, Also, ich fahre euch jetzt ins nächste Krankenhaus, er ließ den Motor an. Der Junge schrie auf, rauh. Packte ihn am Arm, Sie ist noch da draußen! Ist noch da draußen,
    Wer? Wer ist da draußen, wo? Wer?
    Ich habe sie draußen verloren, im Schnee, sie stirbt, sie stirbt!
    Anfangs war er sich der Kälte gar nicht bewußt, die durch seinen Pullover drang. Er fror nicht. Er hatte nicht daran gedacht, seine Jacke mitzunehmen, er rannte. Suchte nach Spuren im Schnee. Der an den Straßenrändern fast hüfthoch lag, unter den Bäumen war es etwas besser, der Schnee ging ihm hier bis zum Knie, manchmal nur bis zu den Knöcheln. Die Kälte umhüllte ihn. Sie umgab ihn völlig, ohne in ihn einzudringen, wie Wasser vielleicht, wo war seine Jacke? Im Auto. Um das Kind gewickelt, er folgte Spuren, in den Wald hinein. Die Kälte drang in seine Nase ein, seine Lungen. Er mußte umkehren und seine Jacke holen! Außerhalb des Lichtkegels seiner Taschenlampe war es stockdunkel.
    Der Schnee zu seinen Füßen war dunkel. Blut. Blutspuren in zertrampeltem Schnee, die nach rechts führten, tiefer hinein in den Wald, um ein Gebüsch herum, das Licht der Taschenlampe fiel zuerst auf ihren Fuß. Kein Schuh. Kein Strumpf. Das andere Bein war verdreht, lag in einemunmöglichen Winkel zu ihrer Hüfte, der Rock bis zur Hüfte hochgeschoben, um den Kopf war der Schnee voll Blut. Sie hatte eine Kopfwunde, oberhalb der rechten Schläfe. War die Schlagader verletzt? Er wußte es nicht. Er war kein Arzt. Kauerte im Schnee, fühlte nach ihrem Herzschlag. Fühlte ihren Atem an seiner Wange: flach, lauwarm, sie lebte. Sie erfror natürlich, konnte er sie tragen, zum Wagen zurück? Das Blut in ihrem Haar begann zu gefrieren, er konnte sie nicht tragen. Nicht mit diesem Bein, er hatte ein Handy! Ein amerikanisches Cell phone, es lag im Wagen. Er mußte sie allein lassen. Er zog seinen Pullover aus, breitete ihn über sie. Hastete los, zurück durch den Wald in seinen eigenen Spuren, der Schnee in seinen Schuhen war jetzt geschmolzen. Er hörte das Knirschen seiner Schritte im Schnee, er fror noch immer nicht. In seinen Lungen fühlte die Kälte sich heiß an. Feuerheiß, schmerzhaft, er sog die Kälte ein, stieß sie wieder aus: tschh-h, tschh-h, er war ein Taucher. Der um Atem rang, erstickte tief unten in einem Kältemeer, er rannte jetzt die Straße entlang, parallel zum Scheinwerferlicht. Riß die Tür auf. Durchstieß endlich die Oberfläche der Kälte, schnappte nach Luft, das Handy lag vorn im Handschuhfach. Er wählte. Wählte no, konnte nicht fassen, was er da tat: rief die Notfallnummer des deutschen Festnetzes an, mitten in Amerika. Er fluchte, drückte die rote Taste, Menütaste, grüne Taste. Während es klingelte, sah er sich im Auto um, war hier irgend etwas Nützliches? Seine Tasche stand da. Er zerrte Wäschestücke heraus, während er in den Hörer sprach, wo war der zweite
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