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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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des G-Dur-Konzerts immer noch, und ich glaube, daß niemand ihn je schöner gespielt hat als der junge Menuhin.
    Auf dem Rückweg durch die überfüllten und abstoßenden Straßen des Warschauer Gettos sprachen wir über unsere liebenswürdigen Gastgeber. Wir beneideten sie. Denn sie besaßen die Platte mit Mozarts Violinkonzert G-Dur, und sie hatten, wovon wir nur träumen konnten: ein eigenes Zimmer, dürftig möbliert, gewiß, aber doch mit einem Bett. So dachten wir beide an das gleiche. Wenn ich mich recht entsinne, zitierte ich, den gellenden, den unaufhörlichen Rufen der Straßenhändler und der Bettler zum Trotz, jene Shakespeare-Verse, in denen davon die Rede ist, daß die Musik der Liebe Nahrung sei.
    Gesehen habe ich Menuhin zum ersten Mal 1956 in Warschau. Das »Tauwetter« machte es, wenigstens vorübergehend, möglich, daß große westliche Musiker und Schauspieler in Polen auftraten. Sie kamen alle: von Leonard Bernstein und Arthur Rubinstein bis Gerard Philipe und Laurence Olivier und eben auch Menuhin. Sein Konzert war überfüllt, in den Gängen der erst unlängst wiederaufgebauten Warschauer Philharmonie drängten sich die Studentinnen und Studenten der Musikhochschule, die ganz billige Eintrittskarten bekommen hatten, freilich nur Stehplätze. Das riesige Podium, das Platz genug für ein großes Symphonieorchester und einen noch größeren Chor bot, war jetzt vollkommen leer, es stand dort auch kein Klavier, denn auf dem Programm waren Solosonaten von Bach und Bartok.
    Menuhin kam rasch auf das Podium. Nach dem heftigen Begrüßungsbeifall wurde es unheimlich still. Gespannt warteten wir auf seinen legendären Ton, den wir nur von der Schallplatte kannten, jetzt, gleich, würden wir ihn hören. Aber Menuhin ließ die Geige sinken. Niemand verstand, warum er noch nicht zu spielen begann, was er, jetzt mit dem Bogen freundlich winkend, denn wollte: Er forderte die an den Wänden und in den Gängen Stehenden auf, zu ihm auf das Podium zu kommen und sich auf den Fußboden zu setzen – und alle folgten, erst zögernd, dann immer rascher, seiner Aufforderung. Dieses Bild, es hat sich mir eingeprägt für immer: Hunderte von jungen Menschen, auf dem Boden sitzend, und in ihrer Mitte ein schlanker Mann, zu dem sie alle aufblicken.
    Zu einem Gespräch mit Yehudi Menuhin kam es, überraschend, Anfang 1960. In dem Zug, mit dem ich von Köln nach Hamburg zurückkehrte, ging ich in den Speisewagen. Ein freier Platz war nicht zu sehen, aber der Kellner fand doch einen für mich – an einem Tisch, an dem schon drei Personen saßen. Nach dem flüchtigen Studium der Speisekarte warf ich einen Blick auf meinen Nachbarn, und ich erstarrte vor Schreck, ich erstarrte so sehr, daß ich ihn unhöflich fragte: Wer sind Sie? Mein Nachbar antwortete ganz ruhig: Yehudi Menuhin. Und das, sagte er, ist meine Schwester Hephzibah. Nichts war selbstgefällig an ihm, er sprach ganz natürlich, alles Gekünstelte war ihm fremd.
    Ich erinnere mich an zwei Fragen, die ich Menuhin während dieser Bahnfahrt stellte. Ich wollte wissen, wer seiner Ansicht nach der größte lebende Geiger sei. Er antwortete sofort: David Ojstrach – und fügte hinzu: »In ihm steckt ein Zigeunergeiger«, womit er natürlich Ojstrachs Temperament meinte, seine Spielfreude und Urwüchsigkeit. Damit ich ihn nicht etwa mißverstehe, sagte Menuhin lachend, in jedem großen Geiger stecke ein kleiner Zigeuner. Dann sprachen wir über die Monotonie des Virtuosendaseins. Er reiste damals von Stadt zu Stadt und trat jeden Abend auf, mit einer Beethoven- und einer Brahmssonate, die er zusammen mit seiner Schwester spielte. Ob das nicht – fragte ich ihn –, wenn man es wochenlang tue, auf die Dauer sehr anstrengend sei und, darauf kam es mir besonders an, vielleicht auch langweilig werde. Menuhin überlegte nur einen Augenblick und gab mir dann eine Antwort von großer Schlichtheit, wenn nicht gar Banalität. Aber ich habe sie nie vergessen. Er sagte mir: »Wenn man sich jeden Abend wirklich Mühe gibt, wird es nie langweilig.«
    Im Herbst 1979 machte ich eine Vortragsreise durch China, ich war in Peking und Nanking, Kanton und Schanghai. In Nanking empfiehlt man mir, in den Zoologischen Garten zu gehen. Es ist ein trüber Tag, dennoch drängen sich in den Alleen und vor den Käfigen Tausende von Menschen, Erwachsene und Kinder. Plötzlich werden sie unruhig, wenden sich von den Käfigen ab, rufen sich etwas zu, verständigen sich miteinander durch Zeichen.
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