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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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aggressiv.
    Er selber, erklärte er dann, sei an allem schuld, er habe einen Fehler gemacht: Er hätte mir nie den Inhalt seines Buches erzählen sollen. Darauf vor allem sei meine ungünstige (und seiner Ansicht nach natürlich einseitige, ungerechte und böse) Kritik zurückzuführen. Ich aber war und bin überzeugt, daß meine Beurteilung dieser Erzählung, auch wenn ich nichts über ihr Thema gewußt hätte, schwerlich positiver gewesen wäre. Und wieder mußte ich mich damit abfinden, daß das Verhältnis eines Autors zu einem Kritiker davon abhängt, was dieser Kritiker über dessen letztes Buch geäußert hat.
    Ich habe Frisch nie wieder gesehen. Als im Winter 1991 das Buch vorbereitet wurde, in dem meine wichtigeren Arbeiten über ihn gesammelt sind, hat Frisch, vom Verlag darum gebeten, die Fotos für diesen Band noch selbst ausgewählt. Er hat ihn etwa zwei Wochen vor seinem Tod erhalten und sich gleich herzlich bedankt: Froh sei er, sagte er, daß die Krise zwischen ihm und mir wegen der »Blaubart«-Kritik nun ausgeräumt sei und daß ich, so drückte er sich aus, treu zu ihm halte.
    Die Atmosphäre an jenem letzten Abend, im April 1986, machte es mir unmöglich, Max Frisch auf einfache Weise mitzuteilen, was aus meinen Kritiken trotz aller Begeisterung vielleicht doch nicht in ausreichendem Maße hervorgegangen war. Ich wollte ihm also sagen, daß ich ihm viel, sehr viel zu verdanken habe und daß einige seiner Bücher aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken seien, ja, daß ich sie liebe – den »Stiller« und den »Homo Faber«, den »Gantenbein« und »Montauk« und, nicht zuletzt, die beiden »Tagebücher«. Mehr noch: Daß mir seine Werke näher stünden als die von Dürrenmatt oder Böll, von Grass oder Uwe Johnson. Wäre somit Frisch der bessere Schriftsteller? Nein, nicht darum geht es, nicht um einen Qualitätsvergleich.
    Ob es nun für oder gegen ihn spricht, es ist eine Tatsache: Anders als Dürrenmatt oder Böll, anders als Grass oder Uwe Johnson schrieb Frisch über die Komplexe und die Konflikte der Intellektuellen, und er wandte sich immer wieder an uns, die Intellektuellen aus der bürgerlichen Bildungsschicht. Wie kein anderer hat Frisch unsere Mentalität durchschaut und erkannt: Unseren Lebenshunger und unsere Liebesfähigkeit, unsere Schwäche und unsere Ohnmacht. Was wir viele Jahre lang spürten, ahnten und dachten, hofften und fürchteten, ohne es ausdrücken zu können – er hat es formuliert und gezeigt. Er hat seine und unsere Welt gedichtet, ohne sie je zu poetisieren, er hat seine und unsere (das Wort läßt sich nicht mehr vermeiden) Identität stets aufs neue bewußt gemacht – uns und allen anderen.
    So konnten und können wir in seinem Werk, im Werk des europäischen Schriftstellers Max Frisch, finden, was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber. Das wollte ich ihm damals sagen.

 
Yehudi Menuhin und unser Quartett
     
    Als ich zum ersten Mal den Namen Menuhin hörte – ich war noch ein Kind und lebte erst seit kurzem in Berlin –, war gleich vom Göttlichen die Rede. Jemand erzählte in unserem Wohnzimmer, es muß um 1930 gewesen sein, vom Konzert des Dreizehnjährigen in der Berliner Philharmonie und zitierte Albert Einsteins Urteil über sein Spiel: »Jetzt weiß ich, daß es einen Gott im Himmel gibt.« Von Anfang an ging dem Geiger Yehudi Menuhin die Legende voran. So ist es geblieben: Von Jahr zu Jahr wuchs der Ruhm des Propheten mit der Violine, des Virtuosen, der dem Publikum Balsam für das Ohr und die Seele bot. Hinter dem Pathos der Berufung auf überirdische Wesen verbarg sich, wie meist in solchen Fällen, nichts anderes als die Hilflosigkeit derer, die dieser Kunst mit dem Wort beikommen wollten.
    Etwa zehn Jahre später, als wir, Tosia und ich, schon im Getto vegetieren mußten, ließ uns ein junger Mann über gemeinsame Bekannte wissen, daß wir am nächsten Tag gegen 17 Uhr bei ihm willkommen seien, es würden einige Schallplatten gespielt. In dem engen Zimmer, in dem unser Gastgeber, kaum älter als wir und schon verheiratet, mit seiner gleichaltrigen Frau wohnte, saßen auf dem Fußboden sieben oder acht Personen. Es gab Berlioz und Debussy. Dann wurde ich wie vom Schlag getroffen: Was mich so ergriff und erschütterte, war ein Violinkonzert (genauer, der erste Satz dieses Konzerts), das ich damals noch nicht kannte – Nr.3 in G-Dur von Mozart, interpretiert von Menuhin. Ich war sprachlos. Ich liebe diesen ersten Satz
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