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Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Titel: Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Autoren: Daniela Benke
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1. Kapitel
    Das Wimmern des Babys weckte Anna. Sie wandte den Kopf. Christiano schnarchte leise neben ihr. Sein dunkles Haar war ihm ins Gesicht gefallen. Die bleierne Müdigkeit drückte sie tief in die Matratze.
    Laura könnte ihm die Ohren vollbrüllen, und er würde nicht aufwachen, dachte sie bitter.
    Mühsam setzte sie sich auf. Das Baby weinte jetzt. Sie biss die Zähne zusammen und stand auf. Im Flur suchte sie nach dem Lichtschalter. Sie stieß gegen etwas Hartes. Ein Schmerz durchfuhr ihren Zeh. Etwas fiel um. Leise fluchte sie. Endlich fand sie den Lichtschalter. Das grelle Licht tat ihr in den müden Augen weh. Sie war gegen Christianos Aktentasche gelaufen. Musste er sie auch immer im Weg abstellen? Bei all dem Lärm war es ein Wunder, dass ihre Großmutter Helene noch nicht aufgewacht war. Sie rieb sich den schmerzenden Zeh. Der Inhalt der Aktentasche hatte sich über das Parkett ergossen. Laura schrie jetzt. Sie eilte ins Kinderzimmer und beugte sich über die Wiege.
    „Engelchen, ich bin da.“ Sie drückte das weinende Bündel an sich.
    „Laura, Mami ist da.“ Sie summte ihr leise eine Melodie ins Ohr und schaukelte sie sanft.
    Lauras Weinen wurde zum Schluchzen und schließlich beruhigte sie sich.
    „Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.“ Sie küsste das Baby auf die Wange. Die weiche Haut rührte sie. Sie setzte sich in den Holzschaukelstuhl, der neben der Wiege stand, und knöpfte das Nachthemd auf. Anna starrte in die Nacht. Die Dunkelheit im Zimmer wirkte bedrohlich. Sie musste sich endlich um ein Nachtlicht kümmern. Fest drückte sie den kleinen Körper an sich, hielt sich an ihm fest.
     
    Auf dem Weg ins Bett fiel sie fast ein zweites Mal über die Aktentasche. Sie bückte sich, um den Inhalt wieder in die Tasche zu räumen. Ihr Blick blieb an einem Briefumschlag hängen, der sich weiß von dem glänzenden dunklen Parkett abhob. In geschwungener weiblicher Schrift stand dort: „Christiano“. Ein heißes Kribbeln lief ihre Wirbelsäule hinauf. Eine böse Vorahnung, die schon lange in ihr schlummerte, befiel sie. Unschlüssig drehte sie den weißen Umschlag in ihren Händen.
    Weiß wie die Unschuld, dachte sie. Als sie das erste Mal in Lauras Gesicht geblickt hatte, hatte sie begriffen, was Unschuld wirklich bedeutete. Sie riss den Umschlag auf. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie fiel heraus. Sie zeigte eine nackte Frau, die sich notdürftig bedeckt auf weißen Laken rekelte. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Annas Hand zitterte. Sie wendete das Foto. Auf der Rückseite stand geschrieben: „Ich hatte nur Augen für dich“. Sie drehte das Foto wieder um. Ein Datum war in der rechten Ecke abgedruckt. Das Foto fiel ihr aus der Hand. Ihr wurde schwindelig. Es trug das Datum der Geburt ihrer Tochter.
    Christianos entschuldigende Worte hämmerten hinter ihrer Stirn. „Herz, es tut mir so leid. Ich war in einem Besprechungsraum ohne Empfang.“
    Mit hängenden Schultern hatte er vor ihrem Bett in dem kalten Krankenhauszimmer gestanden.
    Annas Knie versagten. Sie ließ sich an der Wand entlang auf den Fußboden gleiten. Das Parkett war kalt unter ihren nackten Füßen.
    Christiano hatte es nicht zu der Geburt geschafft. Jetzt wusste sie, warum. Sie massierte sich die Schläfen. Hinter der Stirn pochte ein stechender Schmerz. Sie hatte es geahnt. Die ganze Zeit. Aber wer will das schon wahrhaben, wenn im Bauch das gemeinsame Baby strampelt? Die Wut kam aus dem Nichts. Sie entbrannte in ihrem Herzen, benebelte ihren Verstand, nahm ihr den Atem.
    „Signora, wir können Ihren Mann nicht erreichen.“
    „Ohne meinen Mann kann das Kind nicht kommen.“ Panisch hatte sie den Blick des Arztes gesucht.
    „Ich befürchte, das ist Ihrem Baby gleichgültig.“
    Ihre Verzweiflung war an den grünen, kalten Kacheln abgeprallt.
    Anna hielt sich den schmerzenden Kopf und rappelte sich mühsam auf.
    In der Küche suchte sie nach Aspirin. Ihr Blick flimmerte. Die Medikamente fielen aus dem Schrank, eine Schachtel öffnete sich, rote Pillen ergossen sich über die weißen Fliesen, ein Glasfläschchen zerbrach in tausend Splitter. Anna fand das Aspirin nicht, trat in die Glasscherben. Ihr Blut mischte sich mit den roten Pillen auf den weißen Fliesen. Den Schmerz spürte sie nicht.
    Sie sah den blutverschmierten Kittel des Arztes. Sein Blick hing an dem Herzmonitor.
    „Der Herzschlag wird langsamer. Das Baby muss jetzt kommen. Wir müssen einen Kaiserschnitt machen.“ Er hatte sie zuversichtlich,
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