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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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Was niemand weiß
    Eine Woche ist es jetzt her, dass Mama verschwunden ist.
    Die Familie ist bei deinem ältesten Bruder Hyong-Chol versammelt und diskutiert, was sie unternehmen soll. Ihr beschließt, Flugblätter zu drucken und in der Gegend zu verteilen, wo Mama abhandengekommen ist. Als Erstes, befinden alle, gilt es, das Flugblatt zu entwerfen. Das ist zwar eine ziemlich altmodische Maßnahme in einer solchen Situation, aber es gibt nun mal nicht viel, was man tun kann, wenn jemand vermisst wird, auch wenn dieser Jemand die eigene Mutter ist. Eure Möglichkeiten sind: Vermisstenanzeige zu erstatten, was ihr schon getan habt, die Gegend abzusuchen, Passanten zu fragen, ob sie eine Frau gesehen haben, die aussah wie Mama. Dein jüngerer Bruder, der einen Onlineshop für Kleidung betreibt, hat schon einen Aufruf auf seine Internetseite gestellt mit der Angabe, wo sie verschwunden ist, einem Foto von ihr und der Bitte an jeden, der sie gesehen hat, sich zu melden. Du würdest gern überall da nach ihr suchen, wo sie hingegangen sein könnte, aber du weißt ja nur zu gut, dass sie in dieser Stadt nirgends allein hinfinden würde. Zuerst gilt es, das Flugblatt zu verfassen, Hyong-Chol beauftragt dich damit, weil Schreiben doch dein Beruf sei. Du wirst rot, als ob man dich bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Du weißt nicht recht, wie deine schriftstellerischen Fähigkeiten dabei helfen sollen, Mama zu finden.
    Du schreibst als Mamas Geburtsdatum »24. Juli 1938« hin, aber dein Vater korrigiert dich, nein, sie sei 1936 geboren. In ihrem Ausweis stehe zwar 1938, aber in Wirklichkeit sei es 1936. Das hörst du zum ersten Mal. Dein Vater sagt, das sei damals üblich gewesen. Zu viele Kinder hätten die ersten drei Monate nicht überlebt, also habe man sein Kind erst mal ein paar Jahre alt werden lassen, ehe man es amtlich gemeldet habe. Als du »38« durch »36« ersetzen willst, sagt Hyong-Chol, 1938 müsse stehen bleiben, weil das ja das offizielle Geburtsdatum sei. Du findest, dass man so exakt nicht sein muss, wenn es doch nur um ein selbst gemachtes Flugblatt geht, schließlich seid ihr ja nicht auf irgendeinem Amt. Aber du lässt brav »38« stehen und fragst dich, ob denn wenigstens der 24. Juli stimmt.
    Vor ein paar Jahren hat eure Mama gesagt: »Wir brauchen meinen Geburtstag nicht extra zu feiern.« Vaters Geburtstag ist einen Monat vor ihrem Geburtstag. Früher seid ihr Geschwister zu allen Geburtstagen und sonstigen Familienfesten zu euren Eltern nach Chongup gefahren. Insgesamt umfasste die engste Familie zweiundzwanzig Personen. Mama mochte es, wenn ihre sämtlichen Kinder und Enkel beisammen waren und im Haus für Trubel sorgten. Ein paar Tage vorher machte sie immer frisches Kimchi, kaufte auf dem Markt Rindfleisch und legte einen Vorrat an Zahnpasta und Zahnbürsten an. Sie presste Sesamöl und röstete und zerstieß Sesam- und Perillasamen, damit sie ihren Kindern bei der Abreise etwas davon mitgeben konnte. In dieser Zeit der Erwartung lebte Mama sichtlich auf: Wenn sie mit Nachbarn oder Bekannten redete, sprach ihr Stolz aus jedem Wort und jeder Geste.
    In Mamas Schuppen standen Glasflaschen verschiedenster Größe mit Pflaumen- oder Walderdbeersaft, den sie in der Erntezeit herstellte. Außerdem hortete Mama Gläser mit winzigen fermentierten Fischen und Muscheln oder Sardellenpaste, um sie der Familie in der Stadt zu schicken. Wenn sie hörte, dass Zwiebeln gesund seien, presste sie Zwiebelsaft, und bevor der Winter kam, machte sie Kürbissaft mit Süßholz. Mamas Haus war wie eine Fabrik; sie bereitete Pasten und fermentierte ungeschälten Reis, produzierte das ganze Jahr Sachen für die Familie.
    Irgendwann wurden die Besuche der Kinder in Chongup seltener, und Mama und Vater kamen öfter nach Seoul. Dann fingt ihr an, ihre Geburtstage dadurch zu feiern, dass ihr sie zum Essen ausführtet. Das war einfacher. Und schließlich schlug Mama sogar vor: »Wir können doch meinen Geburtstag am Geburtstag eures Vaters mitfeiern.« Sie sagte, es sei doch eine Last, zweimal zu feiern, weil ihre Geburtstage beide im heißen Sommer lägen, wo es außerdem noch zwei Ahnenrituale im Abstand von nur zwei Tagen auszurichten gelte. Zuerst lehnte die Familie diese praktische Lösung kategorisch ab, auch wenn Mama darauf beharrte und sich weigerte, zu ihrem Geburtstag nach Seoul zu
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