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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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Verantwortung zuschiebst – wie immer. Ihr lasst Vater bei Hyong-Chol und geht alle nach Hause. Wenn ihr jetzt nicht gingt, würdet ihr weiterstreiten. Das habt ihr schon die ganze Woche lang getan. Ihr habt euch getroffen, um darüber zu reden, wie ihr Mama finden könntet, und plötzlich fing einer davon an, wie ein anderer von euch sich Mama gegenüber irgendwann nicht richtig verhalten hatte. Kleinigkeiten, die jahrelang unter den Teppich gekehrt worden waren, wurden nun aufgebläht, bis alle zu viel rauchten, brüllten und Türen knallten.
    Als du erfuhrst, dass Mama verschwunden war, hast du ärgerlich gefragt, warum niemand aus eurer großen Familie sie und Vater am Hauptbahnhof abgeholt habe.
    Â»Und wo warst du?«
    Ich? Du bist verstummt. Du hast erst nach vier Tagen erfahren, dass Mama verschwunden war. Ihr habt euch gegenseitig die Schuld gegeben und wart alle gekränkt.
    Von Hyong-Chols Wohnung aus nimmst du die U -Bahn nach Hause, steigst aber am Hauptbahnhof aus, wo Mama verschwunden ist. Menschenmassen drängen sich an dir vorbei, als du die Stelle aufsuchst, wo sie zuletzt gesehen wurde. Du schaust auf die Uhr. Drei Uhr. Genau die Uhrzeit, zu der Mama hier zurückblieb. Während du auf dem U -Bahnsteig stehst, da, wo sie von Vater getrennt wurde, schubsen dich Leute, und keiner entschuldigt sich. So haben die Leute wohl auch gedrängelt, als Mama hier stand und nicht wusste, was tun.
    Vor Jahren, ein paar Tage, bevor du in die große Stadt gingst, nahm Mama dich zu einem Kleiderstand auf dem Markt mit. Du hattest dir ein schlichtes Kleid ausgesucht, aber sie griff sich eins mit Rüschen auf den Trägern und am Saum. »Wie wär’s mit dem hier?«
    Â»Nein«, sagtest du und schobst es weg.
    Â»Warum denn nicht? Probier’s doch mal an.« Mama, damals noch jung, sah dich verständnislos an. Das Rüschenkleid war Welten entfernt von dem dreckigen Handtuch, das sie sich, wie andere Bäuerinnen auch, stets um den Kopf band, damit ihr der Arbeitsschweiß nicht in die Augen rann.
    Â»Es ist kleinmädchenhaft.«
    Â»Ach ja?«, sagte Mama, hielt das Kleid aber immer noch hoch und inspizierte es, als wäre sie nicht willens, es dazulassen. »Ich würde es anprobieren, wenn ich du wäre.«
    Aus Schuldgefühl, weil du das Kleid kleinmädchenhaft genannt hattest, sagtest du: »Das ist doch überhaupt nicht dein Stil.«
    Und Mama sagte: »Doch, ich mag solche Kleider, ich hatte nur nie die Gelegenheit, so was zu tragen.«
    Wie weit reicht die Erinnerung an einen Menschen zurück? Deine Erinnerung an Mama?
    Seit du gehört hast, dass Mama verschwunden ist, kannst du dich auf nichts mehr konzentrieren, weil immerzu lang vergessene Erinnerungen auftauchen. Und jede dieser Erinnerungen mit Reue verbunden ist.
    Ich hätte es anprobieren sollen . Du gehst in die Knie, hockst dich an der Stelle hin, wo Mama es vielleicht auch getan hat. Ein paar Tage, nachdem du darauf bestanden hattest, das schlichte Kleid zu nehmen, kamst du mit ihr hier auf diesem U-Bahnhof an. Deine Hand fest umfasst, bahnte sie sich mit einer Entschlossenheit, die wohl selbst die streng auf euch herabblickenden Gebäude einschüchtern sollte, einen Weg durch das Menschenmeer und über den Platz, um am Fuß des Uhrturms auf Hyong-Chol zu warten. Wie kann so jemand einfach verloren gehen? Als die U -Bahn-Scheinwerfer nahen, stürmen die Leute los und schauen dich komisch an. Sie ärgern sich wohl, dass du ihnen im Weg hockst.
    In dem Moment, als sich das Drama hier auf diesem Bahnsteig abspielte, warst du in China, mit deinen Schriftstellerkollegen auf der Buchmesse in Peking. Du hast wohl gerade in der chinesischen Übersetzung eines deiner Bücher geblättert, als Mama im Hauptbahnhof von Seoul verloren ging.
    Â»Warum habt ihr kein Taxi genommen, Vater? Das wäre nicht passiert, wenn ihr nicht die U -Bahn genommen hättet!«
    Vater sagt, er habe gedacht: Warum ein Taxi nehmen, wenn die U-Bahn-Station gleich im Bahnhof ist?
    Auf die meisten Geschehnisse, vor allem auf die schlimmen, folgt die Reue, man geht immer wieder einzelne Momente durch und denkt: Wenn es da doch nur anders gelaufen wäre! Als Vater deinen Geschwistern erklärte, er und Mama könnten allein zu deinem Bruder fahren, warum haben deine Geschwister das da zugelassen, obwohl doch sonst immer jemand zum Hauptbahnhof oder zum Busbahnhof gefahren
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