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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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»Ich hoffe, du verlässt mich nicht eines Tages.« Wenn du sie in diesem Moment riefst und sie sich umdrehte, standen in ihren großen, arglosen Augen Tränen.
    Mamas Liebe zu Hyong-Chol drückte sich darin aus, dass sie extra für ihn eine Schale Ramen machte, wenn er, nachdem er noch bis weit in den Abend hinein zum Lernen in der Schule geblieben war, schließlich nach Hause kam. Als du das später deinem Freund Yu-Bin erzähltest, sagte er: »Na und? Es war doch nur Instantnudelsuppe.«
    Â»Was heißt hier ›na und‹? Ramen war damals das Größte! Es war etwas, das man möglichst heimlich aß, damit man es mit niemandem teilen musste!« Auch als du es ihm erklärtest, schien er, der in der Großstadt aufgewachsen war, nicht zu verstehen, was daran so toll gewesen sein sollte.
    Als diese neue Delikatesse namens Ramen in euer Leben trat, stellte sie alles, was Mama je gekocht hatte, in den Schatten. Sie versteckte das gekaufte Ramen in einem Tontopf zwischen den übrigen Tontöpfen, um es für Hyong-Chol aufzuheben. Doch selbst zu später Stunde weckte der Duft von frisch zubereitetem Ramen dich und deine Geschwister. Wenn Mama dann streng sagte, »Ihr geht jetzt alle wieder ins Bett«, schautet ihr Hyong-Chol an, der gerade anfangen wollte zu essen. Mitleidig gab er jedem von euch einen Löffel ab. Mama sagte: »Warum seid ihr nur alle so fix zur Stelle, wenn es ums Essen geht?«, und setzte Wasser auf, um noch mehr Ramen zu machen und unter euch übrigen Kindern aufzuteilen. Hochzufrieden machte sich schließlich jedes Kind über eine dampfende Schale her, die mehr Brühe als Nudeln enthielt.
    Wenn Mama, nachdem Hyong-Chol aus dem Haus gegangen war, beim Säubern der Tontöpfe zu dem Topf kam, in dem sie immer das Ramen für ihn versteckt hatte, rief sie »Hyong-Chol!« und sank zusammen. Dann nahmst du ihr den Lappen aus der Hand, hobst ihren Arm hoch und legtest ihn dir um den Nacken. Mama schluchzte, außerstande, die Sehnsucht nach ihrem Erstgeborenen zu kontrollieren.
    Wenn Mama nach dem Weggang deiner Brüder in Trauer versank, war alles, was du für sie tun konntest, ihr die Briefe deiner Brüder vorzulesen und ihre Antwortbriefe auf dem Schulweg in den Briefkasten zu stecken. Selbst da ahntest du noch nicht, dass sie nie einen Fuß in die Welt der Buchstaben gesetzt hatte. Warum kamst du gar nicht auf die Idee, dass deine Mutter nicht lesen und schreiben konnte? Nicht einmal, wo sie dich, die du noch ein Kind warst, die Briefe vorlesen und die Antworten niederschreiben ließ? Für dich war das einfach nur eine Pflicht, die du eben zu erfüllen hattest, so wie im Garten Malvenblätter zu pflücken oder Kerosin kaufen zu gehen. Als du dann aus dem Haus warst, übertrug Mama diese Aufgabe offenbar niemand anderem, denn du hast nie einen Brief von ihr bekommen. Weil du ihr nie schriebst? Wohl eher wegen des Telefons.
    Etwa um die Zeit, als du in die Stadt gingst, wurde im Haus des Dorfvorstehers ein öffentlicher Fernsprecher installiert. Das war das erste Telefon in deinem Geburtsort, einem kleinen Bauerndorf, wo ab und zu ein Zug über die Schienen zwischen den Häusern und den ausgedehnten Feldern ratterte. Jeden Vormittag hörten die Dorfbewohner den Dorfvorsteher das Mikrofon testen und dann verkünden, Soundso möge ans Telefon kommen, da sei ein Anruf aus Seoul. Deine Brüder gingen dazu über, den öffentlichen Fernsprecher anzurufen. Jeder, der Kinder oder sonstige Verwandte irgendwo in der Stadt hatte, spitzte selbst bei der Feldarbeit die Ohren, sobald die Lautsprecherstimme erschallte.

    Mutter und Tochter kennen sich entweder ganz genau oder so wenig wie Fremde.
    Bis letzten Herbst glaubtest du, deine Mama ganz genau zu kennen – zu wissen, was ihr gefiel, was du tun musstest, um sie zu besänftigen, wenn sie ärgerlich war, was sie hören wollte. Wenn dich jemand fragte, was deine Mama so tat, konntest du auf der Stelle antworten: Wahrscheinlich trocknet sie gerade Farn. Oder: Es ist Sonntag, also ist sie in der Kirche.
    Doch im letzten Herbst wurde deine Gewissheit, sie zu kennen, jäh zerschlagen. Du fuhrst nach Hause, ohne dich vorher anzukündigen, und musstest feststellen, dass du auf einmal ein Besuch warst. Mama schämte sich die ganze Zeit für den unordentlichen Hinterhof oder die schmuddeligen Bettdecken. Sie hob ein Handtuch vom Boden auf
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