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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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Hyong-Chol, den sie dir diktierte, kurz nachdem er in die Stadt gezogen war. Hyong-Chol hatte die Oberschule in dem kleinen Ort besucht, wo ihr alle geboren seid, ein Jahr zu Hause auf die Prüfung für den Verwaltungsdienst gelernt und ging dann in die Stadt, um seine erste Stelle anzutreten. Es war das erste Mal, dass Mama von einem ihrer Kinder getrennt wurde. Damals hattet ihr im Dorf noch kein Telefon, und die einzige Kommunikationsmöglichkeit waren Briefe. Hyong-Chol schrieb seine Briefe an sie in Großbuchstaben. Irgendwie wusste Mama intuitiv, wann Hyong-Chols Briefe eintreffen würden. Der Postbote erschien so um elf mit einer großen Tasche an seinem Fahrrad. An den Tagen, an denen Hyong-Chols Briefe eintrafen, kam Mama vom Feld oder vom Wäschewaschen am Bach ins Haus zurück, um den Brief persönlich entgegenzunehmen. Dann wartete sie, bis du aus der Schule kamst, führte dich auf den Maru, die traditionelle Veranda hinter dem Haus, und nahm Hyong-Chols Brief heraus. »Lies vor«, sagte sie.
    Hyong-Chols Briefe begannen immer mit » Liebste Mutter «. Als ob er einer Anleitung zum Briefeschreiben folgte, erkundigte er sich nach der Familie und sagte, es gehe ihm gut. Er schrieb, dass er einmal die Woche seine Wäsche der Frau von Vaters Cousin bringe, die sie für ihn wasche, wie Mama sie gebeten habe. Er berichtete, dass er ordentlich esse und einen Platz zum Schlafen gefunden habe, da er jetzt erst mal auf der Arbeit bei der Stadtverwaltung übernachten könne. Sie solle sich um ihn keine Sorgen machen. Dann schrieb Hyong-Chol noch, er habe das Gefühl, in dieser Stadt alles schaffen zu können, und er habe viel vor: Er wolle es zu etwas bringen, damit sie es im Leben leichter hätte. Und ungemein erwachsen setzte der zweiundzwanzigjährige Hyong-Chol hinzu: »Also mach Dir um mich keine Gedanken, Mutter, und achte bitte auf Deine Gesundheit .« Wenn du über das Blatt hinwegblicktest, sahst du Mutter auf die Taropflanzen im Garten schauen oder auf den Sims voller hoher Tontöpfe mit Pasten. Sie spitzte die Ohren wie ein Kaninchen, damit ihr nur ja kein Wort entging.
    Wenn du den Brief vorgelesen hattest, wies dich deine Mama an aufzuschreiben, was sie sagen würde. Ihre ersten Worte waren »Lieber Hyong-Chol«. Du schriebst, Lieber Hyong-Chol . Mama sagte nicht, dass du einen Punkt dahinter setzen solltest, aber du tatest es. Wenn sie »Hyong-Chol!« sagte, schriebst du, Hyong-Chol!. Wenn Mama nach seinem Namen eine Pause machte, als ob sie vergessen hätte, was sie sagen wollte, strichst du dir Strähnen deines kinnlangen Haars hinters Ohr und wartetest aufmerksam, den Kugelschreiber in der Hand, den Blick auf den Briefbogen gesenkt. Wenn sie sagte, »Es ist kalt geworden«, schriebst du, Es ist kalt geworden. Auf »Lieber Hyong-Chol« folgte immer irgendetwas übers Wetter: »Die ersten Blumen sind da, jetzt, wo Frühling ist.« »Es ist Sommer, also wird das Reisfeld jetzt trocken und rissig.« »Es ist Erntezeit, und die Bohnen wuchern bis ins Reisfeld.« Mama sprach den Dialekt eurer Gegend, außer wenn sie Briefe an Hyong-Chol diktierte. »Mach Dir keine Sorgen um irgendetwas hier zu Hause und kümmere Dich bitte gut um Dich selbst. Das ist das Einzige, was Deine Mutter sich von Dir wünscht.« Unterwegs wurden Mamas Briefe immer emotionaler. »Es tut mir leid, dass ich Dir keine Hilfe sein kann.« Während du ihre Worte sorgsam niederschriebst, vergoss sie eine dicke Träne. Die letzten Worte ihrer Briefe waren immer dieselben: »Achte darauf, keine Mahlzeiten auszulassen. Mama.«
    Als mittleres von fünf Geschwistern hast du zweimal – bei deinen beiden älteren Brüdern – Mamas Kummer, Schmerz und Angst miterlebt, wenn eins ihrer Kinder aus dem Haus ging. Nachdem Hyong-Chol nach Seoul gegangen war, säuberte Mama jeden Morgen bei Tagesanbruch die glasierten Tontöpfe auf dem Sims im hinteren Garten. Da sich der Brunnen vor dem Haus befand, war es mühsam, Wasser nach hinten zu bringen, aber sie reinigte jeden einzelnen Topf. Sie nahm alle Deckel ab und rieb sie innen und außen ab, bis sie glänzten. Dabei sang deine Mama leise: »Ohne das Meer zwischen dir und mir gäbe es nicht diesen schmerzhafte Abschied …« Während ihre Hände geschäftig den Lappen in kaltes Wasser tauchten, wieder herausnahmen und auswrangen, sang Mama:
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