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Der Dolchstoss

Der Dolchstoss

Titel: Der Dolchstoss
Autoren: Robert Jordan
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KAPITEL 1
    Muster in Mustern
    Sevanna betrachtete verächtlich ihre staubbedeckten Begleiterinnen, die mit ihr zusammen auf der kleinen Lichtung im Kreis saßen. Die beinahe unbelaubten Zweige über ihnen spendeten nur wenig kühlen Schatten. Der Ort, an dem Rand al'Thor sie ins Verderben gestürzt hatte, lag über einhundert Meilen westlich von ihnen, und doch wirkten die anderen Frauen besorgt. Da keine Dampfzelte zur Verfügung standen, hatten sie sich am Abend nicht richtig säubern, sondern sich nur hastig Gesicht und Hände waschen können. Acht kleine, unterschiedliche Silberbecher und ein mit Wasser gefüllter Silberkrug, der beim Rückzug verbeult war, standen auf dem herabgefallenen Laub neben ihr.
    »Entweder verfolgt uns der Car'a'carn nicht, oder er konnte uns nicht finden. Beides befriedigt mich.«
    Einige der Frauen zuckten wahrhaftig zusammen. Tions rundes Gesicht wurde blaß, und Modarra tätschelte ihr die Schulter. Modarra wäre hübsch gewesen, wenn sie nicht so groß gewesen wäre, und sie versuchte stets, jedermann in ihrer Reichweite zu bemuttern. Alarys bemühte sich zu offensichtlich, ihre bereits ordentlich um sie ausgebreiteten Röcke zu richten, um nicht sehen zu müssen, was sie nicht sehen wollte. Meira preßte die schmalen Lippen zusammen, aber wer wußte, ob dies aufgrund der deutlichen Angst der anderen oder ihrer eigenen Angst vor dem Car'a'carn geschah? Sie hatten allen Grund, sich zu fürchten.
    Zwei volle Tage waren seit der Schlacht vergangen, und nicht einmal mehr zwanzigtausend Töchter des Speers hatten sich wieder um Sevanna geschart. Therava und die meisten der Weisen Frauen, die im Westen gestanden hatten, wurden noch immer vermißt, einschließlich aller übrigen mit ihr Verbundenen. Einige der Vermißten bemühten sich gewiß, nach Brudermörders Dolch zurück zu gelangen, aber wie viele würden die Sonne nie wieder aufgehen sehen? Niemand konnte sich an ein ähnliches Gemetzel erinnern, an so viele Tote in so kurzer Zeit. Sogar die Algai d'siswai waren nicht wirklich bereit, so bald wieder in den Kampf zu ziehen. Sie hatten Angst, aber sie zeigten sie nicht, ließen ihr Herz und ihre Seele sich nicht wie bei den Feuchtländern auf ihren Gesichtern widerspiegeln, so daß alle es sehen Rhiale erkannte anscheinend zumindest das. »Wenn wir es tun müssen, dann sollten wir es tun«, murrte sie. Sie war eine derjenigen, die zusammengezuckt waren.
    Sevanna nahm den kleinen grauen Würfel aus ihrer Tasche und stellte ihn auf das braune Laub inmitten des Kreises. Someryn stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor, um den Würfel zu betrachten. Ihre Nase berührte ihn fast. Alle Seiten des Würfels waren mit komplizierten Mustern bedeckt, und wenn man ihn aus der Nähe ansah, konnte man kleinere Muster innerhalb der großen Muster erkennen und noch kleinere wiederum innerhalb dieser, sowie darin erneut Muster erahnen. Sevanna wußte nicht, wie die kleinsten Muster - so fein, so genau - gestaltet werden konnten. Sie hatte früher geglaubt, der Würfel bestünde aus Stein, aber dessen war sie sich nicht mehr sicher. Gestern hatte sie ihn versehentlich auf Felsen fallen lassen, ohne daß auch nur eine eingravierte Linie beschädigt worden wäre. Wenn die Muster wirklich eingraviert waren. Sie wußten aber, daß der Würfel ein Ter'angreal war.
    »Dort, bei dem Muster, das wie ein verdrehter Halbmond aussieht, sollte der kleinste mögliche Strang Feuer leicht zu berühren sein«, erklärte sie ihnen, »und ein weiterer dort oben, auf dieser wie ein Lichtblitz gestalteten Markierung.« Someryn richtete sich hastig auf.
    »Was wird dann geschehen?« fragte Alarys, während sie ihr Haar mit den Fingern kämmte. Sie schien dies unbewußt zu tun, aber sie fand stets Möglichkeiten, jedermann in Erinnerung zu rufen, daß ihr Haar schwarz anstatt wie bei den meisten blond oder rot war.
    Sevanna lächelte. Sie genoß es, Dinge zu wissen, die den anderen verborgen waren. »Ich werde den Würfel benutzen, um den Feuchtländer zu rufen, der ihn mir gab.«
    »Das habt Ihr uns bereits gesagt«, erwiderte Rhiale verärgert, und Tion fragte barsch: »Wie wird er dadurch gerufen?« Sie fürchtete vielleicht Rand al'Thor, aber nicht vieles anderes. Und gewiß nicht Sevanna. Belinde strich mit einem knochigen Finger sanft über den Würfel, die sonnengebleichten Augenbrauen gesenkt.
    Sevanna behielt eine nichtssagende Miene bei, ärgerte sich aber insgeheim darüber, daß es sie Mühe
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