Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
Vom Netzwerk:
war, um die Eltern abzuholen? Was trieb Vater, der sich bei Besuchen nie anders durch Seoul bewegt hatte als per Taxi oder im Auto eines Familienmitglieds, an diesem Tag dazu, die U-Bahn zu nehmen? Er und Mama rannten zur U-Bahn, die gerade eingefahren war. Vater stieg ein, und als er sich umdrehte, war Mama nicht mehr da. Es war ausgerechnet ein hektischer Samstagnachmittag. Mama wurde im Getümmel abgedrängt, und als sie gerade die Orientierung wiederzufinden versuchte, fuhr die U -Bahn los. Vater wurde panisch: er hatte ihre Tasche.
    Als Mama also allein und ohne alles auf dem U -Bahnsteig zurückblieb, warst du gerade auf dem Weg von der Buchmesse zum Tiananmen-Platz. Du warst schon zum dritten Mal in Peking, hattest den Tiananmen-Platz aber noch nie betreten, sondern immer nur aus dem Bus oder Auto gesehen. Der Student, der eurer Gruppe als Fremdenführer diente, hatte sich erboten, euch vor dem Abendessen noch hinzubringen, und die Gruppe hatte das für eine gute Idee gehalten. Was hat deine Mama wohl gemacht, ganz allein dort auf dem Hauptbahnhof von Seoul, als du gerade vor der Verbotenen Stadt aus dem Taxi stiegst? Die war nur teilweise geöffnet, weil dort gebaut wurde, genau wie zwischen der Verbotenen Stadt und dem Tiananmen-Platz; man musste ein regelrechtes Labyrinth durchqueren, um dorthin zu gelangen. Außerdem war gleich Schließungszeit. In ganz Peking wurde wurde wegen der Olympischen Spiele im folgenden Jahr gebaut. Also kehrte eure Gruppe wieder um.
    Du musstest an die Szene in Der letzte Kaiser denken, wo der alt gewordene Pu Yi in die Verbotene Stadt, sein Kindheitszuhause, zurückkehrt und einem jungen Touristen eine Dose zeigt, die er damals hinter dem Thron versteckt hat. Als er die Dose öffnet, ist die Grille darin, sein Haustier aus Kindertagen, immer noch am Leben.
    Als du dich auf den Weg hinüber zum Tiananmen-Platz machtest, stand da deine Mama mitten im Gedränge und wurde von allen Seiten geschubst? Wartete sie darauf, dass jemand sie holen kam? Während du die Drachen in der Luft über dem Tiananmen-Platz betrachtetest, brach deine Mama vielleicht in der Unterführung in Tränen aus und rief deinen Namen. Während du zusahst, wie sich die Stahltore am Tiananmen-Platz öffneten und eine Abteilung Soldaten im Stechschritt hinausmarschierte, um die rote Fahne mit den fünf Sternen einzuholen, irrte deine Mama vielleicht gerade durch das Labyrinth des Hauptbahnhofs von Seoul. Dass sie das getan hat, weißt du, weil es dir Leute erzählt haben, die zu der Zeit auf dem Bahnhof waren. Sie sagten, ihnen sei eine alte Frau aufgefallen, die sehr langsam ging, sich manchmal auf den Boden setzte oder mit leerem Blick bei den Rolltreppen stand. Manche hatten eine alte Frau lange Zeit im Bahnhof hocken und dann in eine gerade eingefahrene U-Bahn steigen sehen.
    Ein paar Stunden, nachdem deine Mama verschwand, fuhrt ihr, deine Gruppe und du, mit dem Taxi durch die nächtliche Innenstadt zur hell erleuchteten, belebten Straße mit den Essständen, um dort unter roten Laternen einen sechsundfünfzigprozentigen chinesischen Schnaps zu probieren und enorm scharfe, in Chiliöl gebratene Garnelen zu essen.
    Vater stieg an der nächsten Station aus und fuhr zum Hauptbahnhof zurück, aber Mama war nicht mehr da.
    Â»Wie kann sie denn einfach verloren gegangen sein, nur weil sie es nicht mit in diesen Waggon geschafft hat? Dort sind doch überall Schilder. Mutter ist doch in der Lage zu telefonieren. Sie hätte doch von einer Telefonzelle aus anrufen können.« Deine Schwägerin beharrte darauf, dass eurer Mama etwas passiert sein musste. Es sei doch völlig unlogisch, dass sie keine Möglichkeit gehabt habe, zum Haus ihres Sohns zu finden, nur weil sie nicht mit Vater in diese U-Bahn gekommen sei. Mama war etwas passiert. Aber das konnte nur jemand denken, der darauf bestand, Mama als die Person zu sehen, die sie einmal gewesen war.
    Als du sagtest, »Mama kann sich schon verirren«, riss deine Schwägerin erstaunt die Augen auf. »Du weißt doch, wie sie inzwischen ist«, erklärtest du, und deine Schwägerin machte ein Gesicht, als ob sie keine Ahnung hätte, wovon du sprachst. Aber deine Familie wusste sehr wohl, wie Mama inzwischen war. Und dass ihr sie vielleicht nie finden würdet.
    Wann ist dir klar geworden, dass Mama nicht lesen konnte?
    Der erste Brief, den du je geschrieben hast, war der von Mama an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher