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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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gelegenen Garten. Du gingst ins Haus, um sie zu suchen, aber sie war weder im Wohn- noch im Schlafzimmer. Im Haus war überall Unordnung. Auf dem Tisch stand ein Wasserkrug, und auf dem Rand der Spüle balancierte ein Becher. Ein Korb mit Lumpen war auf der Bodenmatte des Wohnzimmers ausgekippt, und auf dem Sofa lag ein dreckiges Hemd, die Ärmel weggestreckt, als ob Vater es eben ausgezogen hätte. Die Spätnachmittagssonne schien in den leeren Raum. »Mama!« Obwohl du wusstest, dass da niemand war, riefst du noch mal: »Mama!«
    Du gingst zur Vordertür hinaus und in den seitlichen Hof, sahst Mama auf dem hölzernen Podest im türlosen Schuppen liegen. »Mama!«, riefst du, aber es kam keine Antwort. Du zogst dir die Schuhe wieder an und gingst zum Schuppen. Von dort aus konnte man den Garten überblicken. Vor langer Zeit hatte Mama im Schuppen Maische hergestellt. Es war ein vielseitig nutzbarer Raum, vor allem, seit auch der angrenzende Schweinestall einbezogen worden war. Auf den Borden, die sie an einer Wand angebracht hatte, bewahrte Mama nur selten benutzte Küchenutensilien auf, und darunter standen Gläser mit Eingelegtem. Mama hatte auch das hölzerne Podest in den Schuppen gebracht. Nachdem das alte Haus abgerissen und durch ein Haus westlichen Stils ersetzt worden war, saß sie, um Küchenarbeiten zu machen, die sie in der neuen Küche im Stehen nicht so gut machen konnte, immer hier auf dem Podest. Sie zerstieß im Mörser Chilischoten für Kimchi, pflückte Bohnen von den Pflanzen und pulte sie aus, machte Chilipaste, salzte Kohl für Kimchi ein oder trocknete Kuchen aus fermentierten Sojabohnen.
    Die Hundehütte beim Schuppen war leer, die Kette lag auf dem Boden. Dir wurde bewusst, dass du beim Betreten des Gartens den Hund gar nicht bellen gehört hattest. Du schautest dich nach dem Hund um und gingst auf Mama zu, aber sie rührte sich nicht. Sie musste Zucchini geschnitten haben, um sie in der Sonne zu trocknen. Ein Schneidbrett, ein Messer und Zucchini waren zur Seite geschoben, und in einem abgenutzten Bambuskorb lagen Zucchinischeiben. Zuerst dachtest du: Schläft sie? Aber Mama machte ja nie ein Schläfchen zwischendurch, also schautest du ihr ins Gesicht. Mama hielt sich mit einer Hand den Kopf. Ihr Mund stand offen, und ihr ganzes Gesicht war schmerzverzerrt.
    Â»Mama!«
    Sie machte die Augen nicht auf.
    Â»Mama! Mama!«
    Du knietest dich neben sie und rütteltest an ihrer Schulter, und jetzt öffneten sich ihre Augen ein wenig. Sie waren blutunterlaufen, und auf Mamas Stirn standen Schweißperlen. Sie erkannte dich offenbar nicht. Ihr gequältes Gesicht schien zu besagen, dass sie mit etwas Unsichtbarem, Schrecklichem rang. Sie schloss die Augen wieder.
    Â»Mama!«
    Du klettertest auf das Podest und bargst Mamas Kopf in deinem Schoß. Du haktest ihr den Arm unter die Achsel, damit sie nicht wegrutschte. Wie hatte man sie in diesem Zustand allein lassen können? Empörung flammte in dir auf, als ob jemand sie einfach hier in den Schuppen geworfen hätte. Aber du warst es doch, die fortgezogen war und sie verlassen hatte. Unter Schock ist es schwer, eine klare Entscheidung zu treffen. Soll ich einen Krankenwagen rufen? Soll ich sie ins Haus bringen? Wo ist Vater? Diese Gedanken schossen dir durch den Kopf, aber getan hast du nichts, als auf Mama hinabzublicken. Noch nie hattest du ihr Gesicht so gequält und elend gesehen. Die Hand, die sie auf die Stirn gepresst hielt, fiel nun kraftlos aufs Ruhebett. Mama atmete mühsam. Ihre Gliedmaßen erschlafften, als hätte sie keine Kraft mehr, gegen den Schmerz anzukämpfen. »Mama!« Dein Herz raste. Du dachtest, vielleicht würde sie ja einfach so sterben. Doch dann öffneten sich Mamas Augen und richteten sich langsam auf dich. Sie hätte überrascht sein müssen, dich zu sehen, aber ihr Blick blieb leer. Sie schien zu schwach, um irgendwie zu reagieren. Etwas später rief sie mit ausdruckslosem Gesicht deinen Namen. Und dann murmelte sie etwas, ganz leise. Du beugtest dich an ihren Mund.
    Â»Als meine Schwester starb, konnte ich nicht mal weinen.« Mamas blasses Gesicht war so leer, dass du kein Wort herausbrachtest.
    Die Beerdigung deiner Tante war im Frühling. Du bist nicht hingefahren. Du hattest sie nicht mal mehr besucht, obwohl sie fast ein Jahr krank gewesen war. Was hattest du in dieser Zeit so Wichtiges zu tun? Als du
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