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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
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und hängte es hastig auf, und wenn beim Essen etwas auf den Tisch kleckerte, wischte sie es sofort weg. Sie schaute in den Kühlschrank, und obwohl du sie davon abhalten wolltest, ging sie schnell einkaufen. Unter Familienmitgliedern muss es einem nicht peinlich zu sein, nach dem Essen das Geschirr auf dem Tisch stehen zu lassen und etwas anderes zu tun. Dir ging auf, dass du eine Fremde warst, als du sahst, wie Mama ihren unordentlichen Alltag vor dir zu verbergen suchte.
    Vielleicht bist du ja schon viel früher zum Besuch geworden, mit dem Tag, als du nach Seoul gingst. Seither hat Mama nie mehr mit dir geschimpft. Vorher wies sie dich wegen jeder Kleinigkeit streng zurecht. Seit deiner Kindheit sprach deine Mama dich immer nur mit »Mädchen!« an. Normalerweise nannte sie dich und deine Schwester so, wenn sie zwischen ihren Töchtern und Söhnen unterscheiden wollte, aber sie sprach dich auch mit »Mädchen!« an, wenn sie etwas an dir zu tadeln hatte, deine Art, eine Frucht zu essen, deinen Gang, deine Kleidung, deine Ausdrucksweise.
    Manchmal allerdings sah sie dir auch beunruhigt ins Gesicht. Sie musterte dich mit besorgter Miene, wenn sie deine Hilfe brauchte, um gestärkte Bettbezüge glattzuziehen, oder wenn du Anmachholz in dem Herd der alten Küche schichten musstest, um Reis zu kochen. An einem kalten Wintertag standet ihr beide am Brunnen, um den Rochen für das Ahnenritual am Neujahrstag zu putzen. Da sagte sie plötzlich: »Du musst dich in der Schule anstrengen, damit du es mal besser haben kannst.« Hast du das damals verstanden?
    Wenn deine Mutter ausgiebig mit dir schimpfte, nanntest du sie öfter als sonst »Mama«. »Mama« ist vertraut und hat etwas Bittendes: Bitte kümmere dich um mich. Bitte hör auf mich anzuschreien, und streich mir über den Kopf. Bitte sei auf meiner Seite, auch wenn ich im Unrecht bin . Du hast nie aufgehört, sie Mama zu nennen. Auch jetzt nicht, wo sie verschwunden ist. Wenn du laut »Mama« sagst, willst du glauben, dass es ihr gut geht. Dass sie stark ist. Dass sie durch nichts aus der Fassung zu bringen ist. Dass sie diejenige ist, an die du dich wenden kannst, wenn dich irgendetwas verzweifeln lässt.
    Im letzten Herbst hattest du ihr dein Kommen nicht angekündigt, aber nicht etwa, weil du ihr ersparen wolltest, sich auf deinen Besuch vorzubereiten. Du musstest beruflich nach Pohang. Von dort zu deinen Eltern ist es weit. Noch als du bei Tagesanbruch aufstandst, dir die Haare wuschst und zum Flughafen fuhrst, um die Morgenmaschine nach Pohang zu nehmen, wusstest du nicht, dass du Mama in Chongup besuchen würdest. Von Pohang nach Chongup zu gelangen, ist umständlicher als von Seoul aus. Nein, dieser Besuch war alles andere als geplant.
    Als du zu Hause ankamst, stand das Tor offen. Die Haustür ebenso. Du warst am nächsten Tag mit Yu-Bin in Seoul zum Mittagessen verabredet, also wolltest du mit dem Nachtzug zurückfahren.
    Das Dorf war dir fremd geworden. Das Einzige, was noch aus deiner Kindheit übrig war, waren die drei – inzwischen allerdings riesig gewordenen – Nesselbäume am Bach. Um zu deinem Elternhaus zu kommen, nahmst du statt der großen Straße den kleinen Pfad, der zum Bach mit den Nesselbäumen führt. Auf dem würdest du genau am hinteren Gartentor deines Elternhauses landen. Vor langer Zeit war vor dem Gartentor ein Gemeinschaftsbrunnen gewesen. Der war dann zugeschüttet worden, als alle Häuser Wasserleitungen bekommen hatten, aber du bliebst erst mal an dieser Stelle stehen, ehe du ins Haus gingst. Du klopftest mit der Fußspitze auf den harten Zement, genau da, wo einst dieser ergiebige Brunnen gewesen war. Wehmut überkam dich. Was machte der Brunnen jetzt dort im Dunkeln unter der Straße, dieser Brunnen, der allen Leuten am Feldweg Wasser geliefert hatte und immer noch voll gewesen war? Du warst nicht da, als der Brunnen zugeschüttet wurde. Eines Tages kamst du zu Besuch, und der Brunnen war weg, da war nur noch eine Zementstraße. Vielleicht weil du nicht mit eigenen Augen gesehen hattest, wie sie ihn zuschütteten, wurdest du die Vorstellung nicht los, dass er immer noch da war, randvoll mit Wasser, gleich unterm Zement.
    Du standst eine Weile auf dem ehemaligen Brunnen, gingst dann durchs Tor und riefst: »Mama!« Aber sie antwortete nicht. Das Licht der sinkenden Herbstsonne überflutete den nach Westen
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