Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand
Autoren: Kyung-Sook Shin
Vom Netzwerk:
weißen Wolken des Deckenfreskos schweben Engel. Du betrittst das Kirchenschiff und willst den Mittelgang entlanggehen, als du plötzlich verharrst. Was ist das? Etwas zieht dich unwiderstehlich nach rechts. Du schiebst dich durch die Menge, blickst auf, um festzustellen, was die Leute da anschauen. Die Pietà, hinter kugelsicherem Glas. Als du die Mutter Gottes ihren toten Sohn auf dem Schoß halten siehst, bist du wie vom Donner gerührt. Ist das wirklich Marmor? Der Leichnam Christi wirkt, als wäre er noch nicht ganz erkaltet. Die Augen der Mutter Gottes, die auf ihn hinabblicken, drücken großen Schmerz aus. Beide Figuren sind von unglaublicher Eindringlichkeit, so sinnlich, dass man sie berühren möchte. Diese Frau, der das Muttersein genommen wurde, birgt den Sohn noch im Tod auf ihrem Schoß. Plötzlich ist dir, als ob jemand sanft deinen Rücken berührt. Du drehst dich schnell um: Kann es sein, dass deine Mutter hinter dir steht?
    Dir wird klar, dass du immer an sie gedacht hast, wenn in deinem Leben etwas schieflief. Wenn du sie vor dir sahst, kam etwas in dir wieder ins Lot, und dir wuchs neue Kraft zu. So stark war diese Gewohnheit, dass du sogar nach Mamas Verschwinden noch manchmal zum Telefon greifen wolltest, um sie anzurufen, und dann erst verwirrt innegehalten hast. Du legst den Rosenkranz der Pietà zu Füßen und kniest dich hin. Es kommt dir vor, als ob sich die Finger der Mutter unter der Achsel des toten Sohns bewegen. Der Schmerz dieser Mutter, die ihren so qualvoll gestorbenen Sohn im Arm hält – du kannst den Anblick kaum ertragen. Das herabflutende Licht scheint schwächer zu werden, das Gemurmel zu verebben: In der Basilika im kleinsten Land der Welt breitet sich Stille aus. Die kleine Bisswunde auf der Innenseite deiner Lippe blutet noch. Du leckst das Blut weg, hebst mit einiger Anstrengung den Kopf und blickst zur Mutter Gottes empor. Unwillkürlich strecken sich deine Hände der kugelsicheren Glasscheibe entgegen, als ob du diese schmerzerfüllten Augen schließen wolltest. Der Geruch deiner Mutter ist dir plötzlich so präsent, als ob er noch an dir haftete, nachdem ihr letzte Nacht in einem Bett geschlafen hättet.
    Einmal im Winter nahm Mama deine kalten kleinen Hände in ihre rauen, abgearbeiteten. »Die sind ja eisig!« Sie führte dich an den Küchenherd. Du rochst ihren unverwechselbaren Duft, als sie dich von hinten umfing und deine Finger rieb …
    Du hast das Gefühl, dass die Mutter Gottes die Hände ausstreckt und deine Wange streichelt. Du kniest vor ihr, die den toten Sohn mit den Wundmalen an Händen und Füßen auf dem Schoß hält, rührst dich nicht, bis nur noch du allein in der Basilika zu sein scheinst. Irgendwann öffnest du die Augen, blickst auf Marias geschlossenen Mund, der eine solche Trauer und zugleich eine so unerschütterliche Würde ausstrahlt. Du seufzt tief. Dieser Mund drückt etwas aus, das über den Schmerz in den Augen hinausgeht – Mitgefühl. Du siehst wieder zu Christus, dessen Arme und Beine friedlich auf den Knien der Gottesmutter ruhen. Selbst im Tod vermag sie ihn zu trösten.
    Wenn du der Familie gesagt hättest, dass du verreisen wolltest, hätten sie es als Beweis dafür genommen, dass du die Suche nach Mama aufgegeben hast. Da du nicht wusstest, wie du das widerlegen solltest, bist du abgereist, ohne etwas zu sagen. Bist du nach Rom gekommen, um die Pietà zu sehen? Vielleicht hast du ja, als Yu-Bin dich gefragt hat, unbewusst an diese Skulptur gedacht. Vielleicht wolltest du ja hier, an dieser Stelle, beten: »Bitte, mach, dass ich wenigstens noch einmal die Frau wiedersehe, die ihr Leben in einem kleinen Land am äußersten Rand Asiens verbracht hat, Tausende Kilometer von hier.« Aber vielleicht war es ja auch etwas anderes … Vielleicht war dir schon klar, dass deine Mutter nicht mehr auf dieser Welt war. Vielleicht wolltest du ja darum beten, dass sie nicht vergessen würde, dass ihr Mitgefühl zuteilwürde. Doch jetzt, im Angesicht dieser Statue jenseits der Glasscheibe, dieser Frau, die da sitzt und in ihren schwachen Armen den ganzen Schmerz der Menschheit seit der Erschaffung der Welt birgt, kannst du gar nichts sagen, nur bewegt die Lippen der Gottesmutter betrachten. Du schließt die Augen, und eine Träne rollt dir über die Wange. Du entfernst dich rückwärts. Eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher