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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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Vorwort
    W IR leben in einer Wissensgesellschaft. Dieser Satz beflügelt Bildungspolitiker und Pädagogen, Universitätsreformer und EU-Kommissare, er bewegt Forscher, Märkte und Unternehmen. Wissen und Bildung sind, so heißt es, die wichtigsten Ressourcen des rohstoffarmen Europa, und wer in die Bildung investiert, investiert in die Zukunft. Mit nicht geringem Pathos wird das Ende der industriellen Arbeit beschworen und alle Energie auf die »wissensbasierten« Tätigkeiten konzentriert. Aber auch in einem anderen Sinne ist Wissen en vogue.
    Die Debatten um Eliteuniversitäten und Studienbedingungen gelangen auf die Titelseiten der Zeitungen und Magazine, die angeblich mangelnde Qualität von Schulen und Universitäten – PISA! – führt zu bildungspolitischen Panikattacken, der Kult und der Kampf um Spitzenforscher und potentielle Nobelpreisträger werden zu nationalen Anliegen stilisiert, in den Medien boomen die Science-Produkte, es werden nicht nur kurze Tagungen zu allen denkbaren Themen, sondern auch lange Nächte der Wissenschaft und Forschung inszeniert, und eines der erfolgreichsten TV-Formate überhaupt ist eine Wissensshow.
    Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob der vermeintliche Traum der Aufklärung vom umfassend gebildeten Menschen in einer rundum informierten Gesellschaft endlich Realität gewinne. Der zweite Blick auf die aktuellen Formationen des Wissens ist allerdings höchst ernüchternd.
    Vieles von dem, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert und proklamiert wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine rhetorische Geste, die weniger einer Idee von Bildung als handfesten politischen und ökonomischen Interessen geschuldet ist. Weder ist die Wissensgesellschaft ein Novum noch löst sie die Industriegesellschaft ab. Eher noch läßt sich diagnostizieren, daß die zahlreichen Reformen des Bildungswesens auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen, womit die Vorstellungen klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.
    Der flexible Mensch, der, lebenslang lernbereit, seine kognitiven Fähigkeiten den sich rasch wandelnden Märkten zur Disposition stellt, ist nicht einmal mehr eine Karikatur des humanistisch Gebildeten, wie ihn Wilhelm von Humboldt in seiner knappen Theorie der Bildung des Menschen skizziert hatte, sondern dessen krasses Gegenteil. Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können – und das ist nicht wenig! –, fehlt diesem Wissen jede synthetisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk – rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen.
    Diese Entwicklung ist nicht mit kulturpessimistischem Gestus zu beklagen. Die Idee von Bildung war selbst nie frei von Dünkel, falschen Hoffnungen und ideologischen Ressentiments, aber es wäre ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, daß die Entwicklungen, die durch das Schlagwort von der Wissensgesellschaft indiziert sind, noch irgend etwas mit dieser Idee zu tun hätten. Gemessen an dem, was Bildung – wie fragwürdig auch immer – einmal intendierte, erweisen sich die Konfigurationen des Wissens heute – von den PISA-Tests bis zur Europäischen Studienarchitektur, von den Sensationen der naturwissenschaftlichen Forschung bis zu den Moden der Kulturwissenschaften, vom surfenden Wissensarbeiter bis zum jettenden Wissensmanager – als Erscheinungsformen der Unbildung. Das heißt nicht, daß nichts gewußt wird. Aber – und dies gehört zu den Paradoxien der Gegenwart: Je mehr der Wert des Wissens beschworen wird, desto schneller verliert das Wissen an Wert.
    Als Theodor W. Adorno im Jahre 1959 – einige Jahre vor der ersten deutschen »Bildungskatastrophe« – seine Theorie der Halbbildung schrieb, konnte er dies noch unter der soziologischen Prämisse tun, daß die humanistische Bildung, wird sie zum Ziel von Menschen, denen die dafür notwendigen Voraussetzungen – vorab die Muße – nicht gewährt werden, zur Halbbildung herabsinken muß. Was Moment der Persönlichkeit hätte werden sollen, was Ausdruck des geistigen Gehalts von Bildung war, wird zu einem äußerlichen, verdinglichten Informationspartikel, das, oberflächlich angeeignet, kaum noch ausreicht, einen sozialen Anspruch zu dokumentieren. Die modernen Massenmedien, so Adorno damals, unterstützen strukturell diese Form der Halbbildung, die damit universell wird.
    Unter den gegenwärtigen Bedingungen radikalisiert sich dieses Konzept und nimmt
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