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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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KAPITEL 1
Das Coq-au-Vin-Desaster (sowie ein Mord)
    Professor Adalbert Bietigheim konnte sich nicht erinnern, jemals einen friedlicheren Tag erlebt zu haben. Das Burgund lachte ihn mit all seiner Pracht an – und er musste einfach zurücklächeln. Fröhlich radelnd genoss er den besonderen Geruch, der in der Luft lag. Allerdings wurde dieser nicht vom Wind zu ihm getragen, obwohl die sommerliche, weingeschwängerte Brise mit ihrer feinen Mineralik einzigartig war. Es war der Duft des vollreifen Epoisses de Bourgogne, vorn in seinem Radkörbchen, der Bietigheim so glücklich dreinschauen ließ. Der mit Marc de Bourgogne bestrichene Rotschmierkäse war reif, geradezu überreif. Eigentlich stand er kurz vor der Verwesung und stank auch entsprechend. Genau so liebte Bietigheim ihn. Bald würde der Professor sich ein lauschiges Plätzchen in einem Weinberg suchen, eine Flasche Pouilly-Fuissé entkorken, ein Stück frisches Baguette abbrechen und den Epoisses dick daraufstreichen.
    Falls der Käse nicht bereits vorher davonfloss und im Boden versickerte.
    »Was meinst du, mein lieber Benno? Ist es bereits Zeit für eine praktische kulinarische Übung?«
    Benno von Saber bellte auf. Der Foxterrier liebte zwar das Laufen, aber ab und an durfte ein Happen guten Essens mit anschließendem Nickerchen im Schatten durchaus sein.
    Bietigheim radelte noch ein Stück weiter, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, wobei er des Öfteren seinen Strohhut festhalten musste, denn der Wind fuhr nun tüchtig darunter. Den Hut hatten ihm seine Studenten, diese Brut, für die Semesterferien geschenkt. Irgendwie hatten sie ihn wohl ins Herz geschlossen. Wusste der Himmel, warum.
    Unzählige Autos mussten um den langsam tretenden Professor einen Bogen machen, doch niemand hupte. Fahrradfahrer gehörten in Frankreich zur Folklore, selbst wenn sie wie Bietigheim ein fremdartig anmutendes Hollandrad benutzten.
    In der Nähe des kleinen Weinörtchens Vosne-Romanée ließ sich Bietigheims Magen, das heißt natürlich sein wissenschaftliches Interesse, nicht mehr zügeln, und er fuhr hinauf in die sanft ansteigenden Rebenhänge. Als rechterhand ein hübscher, mauerumrandeter Weinberg, ein Clos, auftauchte, beschloss er anzuhalten. Bietigheim stellte das Fahrrad ab und stieg das kleine Treppchen in den Weinberg hinauf. Die eng stehenden Pinot-Noir-Rebstöcke waren penibel gepflegt und sicher ein halbes Jahrhundert alt. Sie sahen mit ihrem knorrigen Holz wie Bonsai-Bäumchen aus – was Benno dazu animierte, dort sogleich ein Bonsai-Bächlein zu machen.
    In einigem Abstand gedachte Bietigheim sein Picknick abzuhalten. Gelebte Käsekultur! Angewandte Forschung! Die ganze Reise in die französische Feinschmeckerregion hatte er selbstverständlich aus rein wissenschaftlichem Interesse angetreten. Als Professor für Kulinaristik war er zu Derartigem nachgerade verpflichtet.
    »Bei Fuß!«, befahl er Benno, doch der hörte nicht. Wie eigentlich immer. Der Foxterrier hatte schon als junger Welpe beschlossen, sich nie und nimmer erziehen zu lassen, und war diesem Vorsatz bewundernswert treu geblieben. Trotz dreier Hundetrainer und einer Tierpsychologin, die inzwischen ihr Geld mit Kartenlegen verdiente. Bietigheim nahm den Revoluzzergeist seines Begleiters schmunzelnd zur Kenntnis und streckte glücklich die Arme empor. Dann wuschelte er Benno über den struppigen Kopf und begann, alles fürs Picknick Nötige auszubreiten. Wie herrlich konnte das Leben sein, einfach grandios!
    Das frische Brot und der Käse vermählten sich am Gaumen aufs Wunderbarste, und Bietigheim kam nicht umhin, diese Nation zu bewundern, die über fünfhundert Käsesorten zustande gebracht hatte. Magier der Milch, das waren sie, die Franzosen. Dieser ungemein herzliche Volksstamm.
    »Sind Sie noch ganz bei Trost?«, unterbrach ein Vertreter des Landes seinen Gedankengang. »Können Sie nicht lesen?« Seine grunzende Stimme erinnerte an einen Auerochsen. Auch sein Gesicht. Und die Statur. Zweifellos gehörte er zum stumpfsinnigen Teil der Dorfbevölkerung, befand Bietigheim.
    Der Professor erhob sich, die Hand zum Gruße ausgestreckt. Doch sie blieb ungeschüttelt. Stattdessen zeigte sein Gegenüber mit den Pranken auf ein rotes Schild an der Mauer. Dort stand geschrieben, dass man durchaus Verständnis für die vielen Touristen an diesem Ort aufbringe, jedoch höflichst darum bitte, auf dem Weg zu bleiben und den Weinberg unter keinen Umständen zu betreten.
    »Oh«, sagte der
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