Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
Todeserfahrungen bei der heranwachsenden Generation. Seit aber die Großväter in Altersheime verfrachtet werden, sobald sie ein Anzeichen von Schwäche zeigen, hat in den meisten Haushalten das Meerschweinchen die Rolle des Großvaters übernommen.
    Das Meerschweinchen ist zum einen äußerst zerbrechlich, zum anderen neugierig. Diese explosive Mischung sorgt dafür, dass die Meerschweinchen und der Tod Hand in Hand gehen. Wenn Großväter sterben, sind sie in der Regel alt und in der Welt herumgekommen. Meerschweinchen sterben dagegen oft jung und unerfahren – wie Rockmusiker. Nichts tun die Meerschweinchen lieber, als an Stromkabeln zu knabbern, es liegt ihnen sehr, sich an Orte zu begeben, von denen es keine Rückkehr gibt. Ich kannte Meerschweinchen, die in einer Mikrowelle eingeschlafen waren, und Meerschweinchen, die es geschafft hatten, ihre Nase in einen Aktenvernichter zu stecken. Ich erinnere mich außerdem an eine Meerschweinchenfamilie, die in ihrem kleinen Strohhäuschen auf dem Balkon während des großen Festes von einer Silvesterrakete getroffen wurde. Bagdad war nichts dagegen.
    In der Regel nimmt das Kind den Verlust des Meerschweinchens viel tragischer auf als den Verlust des Großvaters, weil Meerschweinchen niedlicher und in jeder Hinsicht bemitleidenswerter sind. Doch das gilt nur für das eigene Tier. Wenn die Kinder gleichaltrigen Freunden von ihrem schmerzhaften Verlust erzählen, dann lachen die sie bloß herzlos aus.
    »Mama steht in der Küche und sagt nichts. Papa schaut aus dem Fenster und sagt nichts. Ich dachte, Lulu schläft, aber sie schlief nicht.«
    Einen ganzen Tag lang berichtete die Tochter von Frau Beere vom Tod ihres Meerschweinchens und ging damit allen auf die Nerven.
    »Wie alt war es denn? Hatte es eine Ohrenschmalzentzündung? Frag deine Mutter, sie kauft dir bestimmt ein neues!«, kicherten die anderen Schrebergartenkinder und brachten die Tochter von Frau Beere dadurch noch mehr zum Weinen.
    Kinder sind anscheinend unfähig zum Mitleid. Ich dagegen hörte mir die Geschichte von Lulu in allen Einzelheiten an, mehrere Male hintereinander, ohne nur einmal zu kichern, und äußerte sogar halb aufrichtig mein Beileid. Lulu war drei Jahre alt geworden. Sie hatte sich beim Spielen an einer Playmobil-Figur verschluckt. Ich hatte Lulu nicht besonders gut gekannt und nur einmal im Garten von Frau Beere gesehen. Die Tochter von Frau Beere hatte ihr Meerschweinchen manchmal dorthin mitgenommen. Lulu sah damals komplett überfordert aus. Sie freute sich wahrscheinlich über die frische Luft, wusste aber überhaupt nicht, wohin mit der plötzlichen Freiheit. Im Kreislauf des Schrebergartenlebens sowie in der natürlichen Nahrungskette hatte ein Meerschweinchen keinen Auftrag und keinen Platz. Niemand brauchte es – nur das Kind. Lulu lief sinnlos fröhlich auf dem Grundstück im Kreis und kackte ununterbrochen vor lauter Begeisterung über ihr gelungenes Leben.
    Die meisten Gärtner in unserer Kolonie halten nicht viel von Haustieren. Ich kenne hier ein paar Katzen, und manchmal bellt es auf der einen oder anderen Parzelle. Vor allem ältere Ehepaare schaffen sich gern einen Hund an, damit sie jemanden haben, der ihnen zuhört. Das ist verständlich. Nach einem halben Jahrhundert des Zusammenlebens haben ältere Ehepaare einander in der Regel nicht mehr viel zu sagen. Die klugen Gedanken über den Sinn und den Inhalt des Lebens sind mehrmals ausgetauscht worden, die alten Witze schon tausendmal erzählt und neue komischerweise nicht entstanden. Die Kinder sind erwachsen und weggezogen. Oder sie sind geblieben, hören aber nicht zu. Deswegen reden sie gern mit ihrem Hund oder ihrem Fernseher. Auf Hund und Fernseher ist immer Verlass. Es ist in der Geschichte der Kommunikation noch nie vorgekommen, dass ein Hund oder ein Fernseher ihrem Gesprächspartner widersprochen haben.
    Die Schrebergartenkatzen sind keine Schmusetiere. Sie sind den Gärtnern in ihren Rechten gleichgestellt und ähneln im Gang ihren Besitzern. Die Schrebergartenkatzen sind gepflegt, oft etwas mollig, und tragen gern Schmuck, zum Beispiel ein Halsband mit einer kleinen Glocke oder mit der Nummer ihrer Parzelle. Ihre Lieblinsbeschäftigung ist es, eine anstrengende Jagd zu simulieren, in dem sie eine Beute ausspähen, die sie eigentlich nicht brauchen. So wie die Gärtner harte Landwirtschaftsarbeit simulieren, als müssten sie sich von den Produkten ihres Gartens ernähren, so laufen ihre Katzen kleinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher