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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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bleiben immer stehen, wenn ein zerbeultes Auto auf der Straße liegt. Und wenn einer vom Fahrrad fällt, schauen sie sich die Blutspuren auf dem Asphalt an. Sie fliegen extra nach New York, um die zerstörten Twin Towers zu besichtigen, oder sie fliegen nach Thailand, um die Spuren des Tsunami zu rekonstruieren. Die Katastrophentouristen haben einen sechsten Sinn für Katastrophen, sie können sie buchstäblich riechen, so wie Japaner das Porzellan. In Meißen herrschte aber zur Hochwasserzeit eher Partystimmung, und so blieben die Katastrophentouristen nicht lange an der Elbe. Enttäuscht zogen sie weiter, Richtung Süden, auf der Suche nach dem ganz großen Knall.
    Wenig später ging die Elbe zurück, und die Japaner kamen wieder. Viele Meißner erinnern sich noch heute an das Hochwasser, als wäre es die spannendste Zeit ihres Lebens gewesen. Es wäre schön, ab und zu eine solche Unordnung und ein derartiges Durcheinander zu haben, aber das gibt’s hier nur einmal in hundert Jahren, sagten die Porzellanstadtbewohner, die zu meiner Lesung in die Bibliothek kamen. Sie erzählten von Hochwasserabenteuern, ich über die nicht enden wollende Apfelernte.
    In der letzten Zeit hatten diese Früchte weitgehend mein Leben bestimmt. Ich schrieb über Äpfel, ich las Apfelgeschichten vor, ich aß Äpfel, und ich sammelte sie ununterbrochen. Inzwischen brauchte ich gar keine Leiter mehr, mächtige Krallen waren mir an Händen und Füßen gewachsen, die es mir erlaubten, mich in jeder Höhe fast problemlos festzuhalten und, wenn nötig, sogar von Baum zu Baum zu springen.
    In meiner Freizeit sammelte ich Material über andere Apfelbesessene. In Russland gehörte zu diesen zweifellos der so genannte Apfelakademiker Ivan Mitschurin, der sein Leben damit verbrachte, den perfekten Apfel zu züchten. Dreihundert Sorten hatte er kreiert, die ihm aber alle nicht schmeckten. Entweder waren sie zu süß oder zu klein oder zu schön, zu hässlich oder zu wenig haltbar. Mitschurin züchtete eine Mischung aus Apfel und Birne, außerdem den im Süden inzwischen beliebten Zwiebelapfel und den in den nördlichen Regionen verbreiteten Zedernapfel. Sein spektakulärstes Projekt, ein sternförmiger Megaapfel, wurde von Stalin persönlich gefördert und sollte auf der großen Militärparade im Mai 1953 vor das Mausoleum getragen werden. Kurz davor starb der sowjetische Führer, Mitschurins letztes Apfelprojekt wurde abgewickelt.
    In Deutschland war Korbinian Aigner ein solcher Apfelfanatiker, in Bayern auch bekannt als »Apfelpfarrer«. Er war Priester und Antifaschist und kam deswegen ins KZ nach Dachau. Dort gelang ihm die Zucht von vier neuen Apfelsorten, die er KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4 nannte. KZ-3 war seine beste Sorte, sie erhielt 1985 zum hundertsten Geburtstag Aigners (er selbst war 1966 gestorben) den Namen »Korbiniansapfel«. Diese Sorte soll in süddeutschen Schrebergärten sehr verbreitet sein, habe ich gelesen.
    Ich möchte mein Leben nicht als Apfelschriftsteller fristen, mein Enthusiasmus schwankt – erlahmt. Gut, ich pflücke vielleicht noch zwanzig bis fünfundzwanzig Kilo, den Rest buddle ich aber ein.

 
15 - Lulu ist tot
     
     
    Wenn ich Papst wäre, würde ich die alte Kirche sofort auflösen und eine neue ins Leben rufen – eine basisdemokratische göttliche Kirche für gesundes und abwechslungsreiches Leben. Sportliche und lebensbejahende Bräuche wie Fasten im Kerzenlicht, gemeinsames Schlagersingen, Babytaufe auf lustige Doppelnamen, kollektive Suche nach der Wahrheit mit abschließendem Pilgern zum Arsch der Welt würde eine solche, von mir favorisierte Kirche selbstverständlich übernehmen. Lebensverachtende und gewalttätige Sitten wie Verbrennen, Köpfen, Auspeitschen, Steinigen, Kreuzigen sowie jede Art der theologischen Auseinandersetzung darüber, wessen Gott besser ist, würden dagegen nicht geduldet und mit sofortigem Rausschmiss bestraft. Die Schwerpunkte unserer Kirche wären die gerechte Aufteilung der Ernte, die Bekämpfung der globalen Erwärmung und eine gesunde Ernährung. Den Rest der Zeit sollten die Gläubigen über die Endlichkeit nachdenken. Der Gedanke, dass jedes Leben kurz und zerbrechlich ist, kann groß und stark machen.
    Der Gedanke der Endlichkeit ist mein Lieblingsgedanke, allerdings denke ich nur im Spätherbst über ihn nach – angesichts der vielen Fruchtfliegen, die in dieser Jahreszeit alles dominieren und deren Zeit viel knapper als meine bemessen ist. Niemand aus diesem leise
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