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0068 - Die Geisternacht

0068 - Die Geisternacht

Titel: 0068 - Die Geisternacht
Autoren: Hans Wolf Sommer
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»Xamotecuhtli!«
    Ein Ausruf wie ein Schrei, in dem sich eine ganze Gefühlsskala ausdrückte: Überraschung, Begeisterung, Ehrfurcht, Hoffnung.
    Professor Zamorra setzte den Eiskaffee ab, den er gerade zum Mund führen wollte, und blickte erstaunt hoch.
    Vor ihm stand ein Indio. Mitte zwanzig, gekleidet in die Tracht der Leute des Hochlands. Der Mann machte einen gehetzten Eindruck.
    Schweiß bedeckte sein Gesicht, und die schwarzen Haare klebten auf der Stirn. An seinem Arm baumelte ein abgewetzter Lederbeutel.
    Überraschendes geschah.
    Der Indio beugte sich nach vorn, fiel auf die Knie. Mit beiden Armen umklammerte er Zamorras Unterschenkel. Sein Gesicht näherte sich dem Erdboden, presste sich auf die Schuhe des Professors, bedeckte sie mit Küssen. Dann, immer noch kniend im Staub der Straße, hob er die Augen.
    »Xamotecuhtli! Herr… Hilf mir!«
    Da war ein Flehen in seiner Stimme, das durch Mark und Bein ging. Und in den dunklen Augen lag ein Ausdruck, der Eis zum Schmelzen gebracht hätte.
    Zamorra wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Ein Bettler, der fünf Pesos haben wollte? Nein, der Mann machte eigentlich nicht den Eindruck, dass er von milden Gaben lebte.
    Der Professor tauschte einen Blick mit Nicole Duval und Bill Fleming, die mit ihm zusammen hier draußen unter dem Baldachin des kleinen Straßencafes im Herzen der Altstadt von Mexiko saßen. Sie verstanden ebenfalls nicht. Nicoles volle Lippen hatten sich vor Erstaunen leicht geöffnet, und der junge Historiker aus New York zuckte die Achseln.
    Zamorra sah wieder hinunter auf den Mexikaner, der noch immer seine Beine umklammert hielt, als wolle er sie nie mehr freigeben.
    »Stehen Sie auf, Mann«, sagte er. »Lassen Sie doch den Unsinn.«
    Der Indio machte keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Im Gegenteil, sein Griff verstärkte sich noch. Zamorra kam sich vor wie ein Strohhalm, an den sich ein Ertrinkender klammerte.
    Und wieder stieß der Indio Worte hervor. Abgehackt, zusammenhanglos, unverständlich.
    »Xamotecuhtli… Du bist gekommen nach all den Jahren … Hilf mir, hilf uns … Die Jünger des Schrecklichen … Tezcatlipoca …«
    Dann plötzlich erschien ein Blitz, der wie eine feurige Schlange über die Straße raste.
    Der Indio zu seinen Füßen schrie auf. Verzweifelt, schmerzerfüllt, unsagbar gequält. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Das Grauen trat in seine brechenden Augen. Flammen umspielten ihn, ergriffen Besitz von seinem ganzen Körper. Er wurde zu einer menschlichen Fackel, hell lodernd wie Zunder.
    Instinktiv fuhr Zamorra zurück, sprengte die Umklammerung.
    Der Gartenstuhl, auf dem er gesessen hatte, stürzte um, als er ruckartig aufsprang.
    Die feurige Zunge… Sie war von drüben gekommen, von der anderen Straßenseite. Zahlreiche Menschen befanden sich dort.
    Passanten, die ihrer Wege gingen, Schaulustige, die die Auslagen der kleinen Geschäfte betrachteten, in denen man Spezialitäten für Gaumen und Zunge sowie kunstgewerbliche Gegenstände aller Art kaufen konnte. Die meisten von ihnen waren stehen geblieben, starrten mit großen Augen auf den Mann, den das verzehrende Feuer umspielte. Unter ihnen einer, der Zamorra sofort auffiel. Nicht Erstaunen und Erschrecken prägte sein rotbraunes, scharfgeschnittenes Gesicht.
    Der Professor konnte etwas anderes in seinen Zügen erkennen: Triumph, Befriedigung, ja Belustigung. Irgend etwas funkelte sonnenhell in seiner Hand. Eine kleine Scheibe, aus Glas oder Metall.
    Kleine Rauchwölkchen umschwebten den blitzenden Gegenstand.
    Nur noch eine Sekunde lang, dann erstarb das Funkeln. Auch der Mann selbst war verschwunden, untergetaucht in der Menschenmenge.
    Hektik entstand. Sämtliche Gäste des Straßencafes waren aufgesprungen.
    Stimmen schwirrten hin und her. Spitze Schreie wurden ausgestoßen. Diejenigen, die dem brennenden Indio am nächsten waren, brachten räumlichen Abstand zwischen sich und den züngelnden Flammen.
    Auch Bill und Nicole hatten ihre Stühle zurückgestoßen, blickten hilflos auf den Unglücklichen.
    Ihm war nicht mehr zu helfen. Das Feuer umtobte ihn, als sei er vorher mit Benzin übergossen worden. Er lag auf dem Steinboden, rührte sich nicht mehr. Längst war seine Kleidung ein Opfer der Flammen geworden. Der Geruch von verbranntem Fleisch machte sich bemerkbar. Der Körper wurde zu einem formlosen, grauschwarzen Etwas, schrumpfte zusehends, verwandelte sich in Asche, die zuerst noch glühte, dann aber schnell zu
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